Sowjettruppen schnell nach Hause?

■ Gorbatschow-Berater Oleg Bogomolow tritt für vorfristigen Truppenabzug ein Armee im „Zustand der Zersetzung“?/ Politgeneral spricht dagegen von Medienkampagne

Berlin (taz) — Oleg Bogomolow, Volksdeputierter des Obersten Sowjets und Chef des Instituts für internationale Wirtschafts- und Politikforschung, das Gorbatschow berät, hat in einem Interview für 'Bild am Sonntag‘ für einen vorfristigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland plädiert. „Unsere Armee“, sagte er, „ist in erheblichem Maß vom Virus der Zersetzung befallen.“ Ein beschleunigter Truppenabzug setze freilich voraus, daß der Wohnungsbau beschleunigt werde und überflüssiges Kriegsgerät bereits in Deutschland „denaturiert“ beziehungsweise verkauft werde. Gegen die Zersetzungsthese, sprich: Desertion und Kriminalität, insbesondere Waffenhandel, hat sich General Koslow von der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte gewandt. „Müßige Schreiberlinge“, so Koslow in der 'Prawda‘, „haben sich aus den Fingern gesogen“, daß jährlich tausend Soldaten der Westgruppe den Tod fänden. „Freilich“, fügte er hinzu, „sterben manchmal Leute in der Armee.“

Der Botschaftsrat bei der Berliner Außenstelle, Michail Logwinow, wies in einem Gespräch die Behauptung zurück, daß 700 Sowjetsoldaten desertiert seien und sich in den Wäldern der Ex-DDR herumtrieben. „Leider“, sagte er, „haben ein paar Dutzend Soldaten ihre Einheiten verlassen, halten sich aber nicht in den Wäldern auf, sondern haben sich in der Hoffnung auf Straffreiheit nach Hause aufgemacht.“ Logwinow unterstrich, daß die sowjetischen Waffenmagazine streng bewacht, Diebstähle mithin schwer möglich seien.

Scharf kritisierte Logwinow den Verteidiger des in Weimar angeklagten Deserteurs Lutschak, Oleg Ljamin. Der sowjetische Rechtsanwalt hatte von systematischen Mißhandlungen und Schikanen in der Armee berichtet und die Verhältnisse dort mit dem KZ Buchenwald verglichen. Er hatte 800 ums Leben gekommene Soldaten für 1988 genannt. Logwinow behauptete demgegenüber, die Zahl der Toten läge nur bei ungefähr achtzig. Ein Viertel sei Opfer von Verkehrsunfällen in der Freizeit gewesen, ein weiteres Viertel sei bei Manöverunfällen ums Leben gekommen, 40 Prozent hätten Selbstmord begangen. Logwinow bezeichnete diese Zahl selbst als erschreckend und schloß nicht aus, daß einige der Selbstmorde Ergebnis einer Treibjagd gegen einzelne Soldaten gewesen sein können. Er wies auf die Nationalitätenkonflikte auch innerhalb der Armeee hin. „Die Situation der Armee spiegelt die schwierige Situation der sowjetischen Gesellschaft wider.“

Logwinow befürchtet, daß Berichte über die angeblich katastrophalen Verhältnisse bei den sowjetischen Einheiten nur den Rechtsextremisten nützten. Er betrachtet „mit Sorge“ die zunehmend negative Haltung von Teilen der deutschen Bevölkerung gegenüber den Sowjettruppen. Fensterscheiben gingen zu Bruch, Soldaten würden auf der Straße beschimpft. Anfang Juli sei ein Wachposten durch Schüsse aus dem Hinterhalt getötet worden. Man habe zwar Verständnis dafür, daß sich die Bevölkerung z.B. durch Tiefflüge belästigt fühle, aber schließlich seien diese Fragen durch das deutsch-sowjetische Abkommen vom 12. Oktober minutiös geregelt.

Logwinow erklärte, die „guten Chancen“ der deutsch-sowjetischen Annäherung dürften in den nächsten Jahren nicht dadurch belastet werden, daß „viele tausend junge Sowjetmenschen Deutschland mit schlechten Gefühlen verlassen“. Friedemann Schmidt/C.S.