Die Kollision als Verkehrsform

Wenn die Deutschen eine Revolution machen, geht es ihnen um den Umsturz der Verkehrsordnung/ Eine Revolution mit 2.000 Toten/ Der Stau vor dem Bahnsteigkartenschalter wird heute zum umfassenden Verkehrsstau/ Ein Essay  ■ Von Ute Scheub

Am Sonntag gegen 14 Uhr 30, so meldet der Polizeibericht, stieß die 65jährige PKW-Fahrerin Ruth B. aus Lichtenberg mit einem Auto zusammen, geriet auf die Gegenfahrbahn und prallte dort gegen einen PKW und einen Baum. Schwer verletzt wurde sie in eine Klinik eingeliefert.

»Verkehrsformen« — noch nie ist ein der marxistischen Kulturkritik entstammender Begriff so ernst und wörtlich genommen worden wie derzeit in Berlin und Deutschland Ost und West überhaupt. Wenn Fremde wissen wollen, wie die Deutschen mit ihrer Vereinigung klarkommen, dann sollten sie nur auf die Straßen schauen. Die Wahrscheinlichkeit, im Osten zu verunglücken, ist derzeit doppelt so hoch wie im Westen, die Anzahl der Verkehrstoten hat sich dort gegenüber dem Vorjahr um 75 Prozent gesteigert. Alle sechs Minuten ereignet sich dort ein Unfall — rund 55.000 seit Anfang des Jahres.

Der Verkehrsunfall als Verkehrsform symbolisiert den deutschen Zustand dabei sowohl in der Gesamtschau als auch in der Detailansicht. Das bis zum Erbrechen abgespulte Bild vom rasenden Zug zur Wiedervereinigung ist damit nicht zufällig eng verwandt — auch in ihm ist die Gewaltförmigkeit der Geschwindigkeit festgehalten. Der Crash jedoch ist ein Realbild auf gesellschaftlicher Mikro- und Makroebene. Trabi und Opel, realsozialistische und realkapitalistische Lebensgewohnheiten knallen zusammen. Leicht zu konstatierende gemeinsame Unfallursache: Die Menschen kommen mit der Raserei der Ereignisse nicht zurecht.

Die Straßen im Osten Berlins sind übersät mit Glassplittern, Blechteilen, Plastikresten. Am Rande der Autobahnen reiht sich immer wieder Wrack an Wrack. Die hohen Unfallzahlen zwischen Ost-West und Ost- Ost sind auch eine Folge der »Überanpassung« vieler ehemaliger DDR- Bürger — mutmaßlich mehrheitlich männlichen Geschlechts [beweisen bitte. sezza]. Denn nichts war vielen nach der Wende wichtiger, als mit dem Trabi auch die eigene Vergangenheit auf den Schrotthaufen der Geschichte zu kippen und mit einem westlichen Statussymbol Parade zu fahren. Wobei sich mittlerweile die tragischen Episoden häufen, bei denen der Nachbar oder Kollege seine Ersparnisse hinblätterte, um zwei Tage später in seiner überteuerten Westkarre tödlich zu verunglücken. Dabei ist es nicht nur die Westtechnik, die überfordert, sondern auch die gesteigerte Aggressivität auf den östlichen Straßen. Man drängt sich ab, flucht, schimpft, fährt absichtlich fast aufeinander auf. Man will demonstrieren, daß man die neue, fürs Überleben nötige Verkehrsform des westlichen Ellbogenverhaltens beherrscht.

Die Westler wiederum reagieren auf derlei Attacken aus dem Osten, die ja meist auch noch mit der Dauerblockade der Überholspur verbunden werden, mit Freundlichkeiten wie: »Zerhackt den Trabi zu Chappi!« An derlei Schändlichkeiten kann man ablesen, wie sehr die Geschwindigkeit der Veränderung die Deutschen, einen bekanntlich stark auf Sicherheit bedachten Stamm, überfordert hat.

Der Blutzoll der Revolution

Dabei sieht es heute so aus, als ob diese sogenannte Revolution im letzten November stattgefunden hat, um in allererster Linie diese Geschwindigkeit zu ändern, um die realsozialistische Langsamkeit zu beschleunigen — die des gesellschaftlichen Stoffwechsels im allgemeinen und die auf den Straßen im speziellen. Die Umschlaggeschwindigkeit des Kapitals war sowohl in den Produktionszentren der Fabriken als auch in den Destruktionsfeldern auf den Straßen zu langsam geworden. Und jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt... auf den Autoschrottbergen und in den Unfallkliniken.

Gerade dort zeigt sich, daß eben doch eine Revolution stattgefunden hat — denn keine Revolution ohne Blutzoll. Über 2.000 Tote hat die ehemalige DDR seit Jahresanfang auf ihren Straßen zu beklagen. 2.000 Menschen ließen heroisch ihr Leben für die faktische Aufhebung der Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen. 2.000 gaben ihr Blut für die Durchsetzung des Rechtsabbiegeprinzips vor roten Ampeln. 2.000 gaben sich hin, um die Aufhebung des absoluten Alkoholverbots am Steuer zu erreichen. 2.000 opferten sich heldenhaft für den Aufschwung der deutschen Autoindustrie.

Wenn die Deutschen eine Revolution machen, dann stürzen sie zuallererst die Straßenverkehrsordnung um. Dann begnügen sie sich heute nicht mehr mit einem Stau vor dem Bahnsteigkartenschalter, es muß gleich der Stau in einem ganzen Land sein. Dann setzen sie ihr in ihrem Zentrum in Berlin einen Mercedes-Stern als Denkmal, die Daimler- Ansiedlung auf dem Potsdamer Platz.

Wie auch anders, wenn eine Automarke selbst zu dem Symbol dieser Revolution wurde. Der Trabi gelangte zu weltweiter Berühmtheit: zuerst noch als Transporteur glücklicher Massen durch die offenen Grenzen, dann immer mehr als Zielscheibe ätzenden Spotts und als Auslöser der schlimmsten Minderwertigkeitskomplexe gegenüber westlichem Chromglitzer. Kein Wunder also, daß es einer der ersten Amtshandlungen der östlichen Polizeiführer im wiedervereinigten Berlin war, die Abschaffung der Dienst-Trabants zu fordern. Nur vordergründig ging es um die erhöhte Unfallgefahr in den kleinen Plastikautos.

Fortschritt als Bleifuß

Also kam es, daß sich diese deutsche Revolution auf den Verkehrswegen auf ihren Begriff brachte. Während die Altbauten weiter bröckeln, die alten Kader immer noch auf ihren Posten sitzen und Stagnation allerorten herrscht, bleibt auf den Straßen kein Steinchen auf dem anderen liegen. Der Fortschritt wird mit dem Bleifuß auf dem Gaspedal vorangetrieben, und seine Folgen sind unübersehbar, unüberhörbar, unüberriechbar. Abgas für alle, das ist seine demokratische Devise. Selbst Bundesumweltminister Töpfer schlägt die Hände überm Kopf zusammen und fürchtet um die letzten deutschen Eichen.

Doch die Geschichte entläßt uns nie ohne ironische Lehren. Der Fortschritt für alle wird zur umfassenden Demokratisierung des Staus. Kein Wunder, da doch allein im Osten Berlins täglich 900 Autos neu zugelassen werden. Laut Prognosen wird sich die Anzahl der Privatwagen in der Region Berlin in den nächsten zwanzig Jahren schlicht verdoppeln — von derzeit gut 1,3 Millionen auf 2,4 Millionen. Die rasende, sich überschlagende, allumfassende Mobilität von Kapital, Kurzarbeitern und Kraftfahrzeugen gerät ins Schleudern, kommt ins Stocken, kein Durchkommen mehr. Die Autofahrer ersticken an sich selbst. Also wird der Fortschritt als Rückwärtsgang eingelegt. So unverblümt hat sich die Berliner SPD seit Jahren nicht mehr für den Autobahnbau zu engagieren gewagt wie auf ihrem letzten Parteitag. Rückfälle in die siebziger Jahre wie dieser häufen sich. Nicht nur ökologisch Gesinnte konstatieren resignierend, die Farcen der Geschichte wohl noch einmal erleben zu müssen. — Das Reservat der Langsamkeit ist hinweggefegt worden, die Revolution überfährt ihre Kinder. Sprichwörtlich und wörtlich. Es wird wohl an der Zeit sein, daß wir wieder Sitzblockaden organisieren, daß wir auf Autobahnen demonstrieren für die Wieder- Entdeckung der Langsamkeit. Ute Scheub