Die Großen lieferten ihre Statements

■ Runder Tisch am Ende — Gespräch „Zur Lage der Nation“ im Haus der Jungen Talente

Berlin (taz) — Die Erwartungen müssen ungeheuer groß gewesen sein. Dicht gedrängt saßen, standen, hockten vorwiegend junge Leute vor dem Podium im großen Saal im Haus der Jungen Talente in Berlin. Kein Fuß war mehr in den Saal zu kriegen. Vor dem Haus harrten sie viele Stunden lang aus, manche umsonst, um zu hören, was Christa Wolf, Stefan Heym, Friedrich Schorlemmer und der sowjetische Schriftsteller Daniel Granin Zur Lage der Nation zu sagen hatten.

Unter diesem Motto traf man sich vorgestern abend zum Abschluß des Treffens des Europäischen Bürgerforums. In Erinnerung an den 4. November des letzten Jahres, dem Tag der „großen Hoffnungen auf eine andere neue deutsche Republik“ (Stefan Heym), dachten die Wortführer von der Demonstration für Presse- und Versammlungsfreiheit des Vorjahres erstmals wieder laut über die Entwicklung, die das Land seit diesem Tag genommen hat, nach.

Eine Entwicklung, die die Mehrheit im Saal sichtlich so nicht gewollt hat. Um so größer ist ihre Schwierigkeit, heute damit umzugehen. Das Gefühl, eine ungeheure Niederlage erlitten zu haben, die Verlierer des Jahres zu sein, macht viele stumm und initiativlos. „Ich habe das Gefühl, als würde man mir mein Leben nehmen“, sagt Christa Wolf, einen Gedanken des Schriftstellers Daniel Granin aufnehmend. In der Sowjetunion habe man die Vergangenheit der Menschen konfisziert, meinte Granin, in dem man ihnen sagte, alles was ihr getan habt, war falsch. Man darf 40 Jahre DDR-Geschichte nicht aus Angst, Abwehr und Unkenntnis durchstreichen oder dämonisieren, appelliert Christa Wolf an ihre ZuhörerInnen. Der heftige Applaus hatte etwas Solidarisches für die durch westliche Literatur- Päpste exkommunizierte Schriftstellerin. Christa Wolf: Es wird alles negiert, die Geschichte, die Utopien genauso wie die DDR-Identität. Jeder, der in diesem Land gelebt hat, habe für sich eine Identität erworben und man dürfe das Stück Selbstbehauptung, was man sich erkämpft hat, nicht wieder wegnehmen lassen.

Stefan Heym versuchte das Scheitern der „Revolution" zu analysieren und zog dabei fast leninsche Schlüsse. Die Schwäche der Revolution war ihre Spontaneität. Es habe keine Komitees, keine Organisationen gegeben, welche die Richtung bestimmt hätten. „Man wußte, was man nicht wollte, aber nicht, was man wollte“. Dagegen lieferte Bundeskanzler Helmut Kohl seine Zehn-Punkte-Konzeption, wofür man ihm einen gewissen politischen Instinkt nicht absprechen konnte. Hier wußten die wenigsten im Saal, ob sie lachen sollten oder nicht.

Einzig Pfarrer Friedrich Schorlemmer sprach gegen das allgemeine Unwohlsein an: Ich bin froh darüber, wo wir angekommen sind. War es sein sozialdemokratischer Auftrag oder sein wirkliches Gefühl? Nach seinen kompromißlerischen Überlegungen, Demokratie brauche Parteien und Bürgerbewegungen, mußte er sich den Vorwurf aus dem Publikum, Wahlkampf zu machen, gefallen lassen. Während die Bürgerbewegungen Druck von unten ausüben sollen, so Schorlemmer, wagen die Demokraten in den Parteien den schwierigen Kompromiß.

An diesem Punkt entzündete sich nur kurz die Diskussion. Nicht funktionierende Technik und mangelndes Interesse jedoch ließen dann alles im Sande verlaufen. Die Großen hatten nach langer Zeit mal wieder ihre Statements abgeliefert. Was blieb der Masse da noch zu sagen. Anja Baum