IMZENTRUMFÜRPHILOSOPHISCHEPRAXIS

MAL‘NGANZANDERERTIP  ■  PARAPSYCHOLOGIE MIT WANDERGITARRE

Die Bahn mußte mich weit ins Grüne hinaus bringen, ehe ich mich am Ziel meiner Reise befand. Das kleine Haus war genau richtig für Konspiration. Dezente Vorgartenbeleuchtung, gepflegte niedrige Hecken. Ein melodischer Gong und eine gedielte, aber dennoch an der Massivität keine Zweifel lassende Tür, die durch eine Dame im sprichwörtlichen Alter geöffnet wurde. Die Räume waren angenehm hell und es roch leicht nach Zimt. Im Hintergrund plätscherte ein kleiner Zimmerspringbrunnen, in einer Glasvitrine wurde Symbolschmuck offeriert und auf einem kleinen Tischchen lagen diverse okkulte, transzendente und gnoseologische Schriften.

Mittwochs inseriert das »Zentrum für Geisteswissenschaft und philosophische Praxis« (Amata) des Dr. Martin W. Spiegel in der taz für Vorlesungen des TAO TE KING, dem »Buch der Weisheit« des chinesischen Gelehrten Lao Tse.

Ich setzte mich zu den Anwesenden, senkte voll Spannung den Blick und zerknautschte wie sie meine Hände zwischen den zusammengepreßten Knien. Im Flüsterton bot mir der Inspizient der Veranstaltung — die gepflegte Dame von der Tür — Informationsblätter und Bücher an. Ich lächelte: »Danke, natürlich.« Ich wollte nicht unhöflich sein. Dann klappte die Tür erneut. ER war gekommen. Mit einem Scherzwort auf den Lippen betrat er die erwartungsvolle Runde und grüßte einige Dauerhörer mit einem distinguierten Nicken. In der Hand hatte er eine Gitarre.

Die einleitenden Worte wurden gemessen vorgetragen und mit einigen Hinweisen auf kommende spektakuläre Veranstaltungen über spezielle Vibrationsund Lichtkraftfelder gewürzt. Bevor er mit der Exegese des 18.Kapitels des TAO TE KING begann, griff er schwungvoll zu einer Wandergitarre und präludierte sanft zupfend den Abend, wobei er sich nur selten einmal in der Saite irrte, was er dann dadurch ausglich, daß er korrekt noch einmal von vorne anfing. Nachdem das 18.Kapitel gelesen war, wuchs die Spannung im Auditorium ins Unermeßliche, denn es war klar, daß dies nicht alles gewesen sein konnte. Und das war es auch nicht. Die Enthüllung der Geheimnisse begann. Aber der Dozent war ein guter Dramaturg: Erst griff er noch einmal zu seinem Instrument.

Es war eine Reise durch die Zeiten, über die Kontinente, durch die Gesellschaften und Kulturen. Problemlos glitt ER von Augustin zu Konfuzius, von Lao zu Sokrates; Jesus und Mani wurden integriert, wie auch die Gnosis und die Anarchie. Das TAO hat seine Wurzeln überall. Dem Zuhörer wurde die Angst vor der Anarchie genommen (endlich wußten sie, was die da in Kreuzberg wollten), er bekam den lateinischen Wortstamm von Moral und den griechischen von Ethik erklärt. Nun wußte der Zuhörer, wer Kant wirklich war, und daß die Menschheit nicht von »Erleuchteten« regiert wurde, ... doch es gab einmal bessere Zeiten. Immer öfter stockte dem Meister die Stimme — die Geheimnisse kamen ihm sichtlich schwerer über die Lippen. Er mußte wieder zur Gitarre greifen. Das Kapitel 18 des TAO TE KING umfaßt wohl nur ein halbes Dutzend Sätze. Um auf die verabredeten 11/2Stunden zu kommen, rollte er die Geschichte der Menschheit noch einmal auf.

Ich klappte mein Notizbuch zu und schlich mich bekümmert aus der Gemeinschaft. Dabei wollte ich doch nur etwas über die Weisheit erfahren, nur ein ganz kleines bißchen. Volker Handloik

19.30UHR:AMATA,ARCHIVSTR.1,1000BERLIN33