»Ick freß langsam mein Konto uff«

■ Häkeln im Herbst: Ein Besuch im Treffpunkt »Quasselstube«« der Senioren von Berlin-Heinersdorf/ Früher traf man sich bei der »Volkssolidarität«/ Arbeitsloses Ehepaar kümmert sich um die alten Leute, die sich nun vor der Kohl-Politik fürchten

Pankow. Gehäkelte Topflappen werden immer gebraucht. Die Finger verbrennt man sich im Kapitalismus genauso wie im Sozialismus. Für die sieben alten Damen in der Heinersdorfer Romain-Rolland- Straße 138 hat sich in den letzten Monaten zwar alles verändert, aber zu häkeln haben sie nicht aufgehört. Und den besten Platz in dem geräumigen Ladenlokal haben sie sich auch nicht nehmen lassen: direkt unter dem Fenster, wegen dem guten Licht. Da müssen die Männer, die schließlich auch nichts produzieren, schon zurückstehen und weiter drinnen im Raum ihren Skat dreschen.

Jetzt guckt ein riesiger, auf Staatsmann getrimmter Oskar-Lafontaine- Kopf die fleißigen Handarbeiterinnen an, wenn sie den Blick von ihren Maschen weg einmal durchs Fenster werfen. Und auf den Scheiben klebt das rote Herz der Arbeiterwohlfahrt (AWO), die im ehemaligen »Klub der Werktätigen« mit ihrer »Quasselstube« die Nachfolge der »Volkssolidarität« angetreten hat. Und seither haben sogar die Topflappen eine neue Aufgabe: Zusammen mit AWO-Mitgliederbeiträgen und Spenden erbringt ihr Verkauf in Basaren Geld für Miete und Strom und andere Auslagen des Seniorentreffs. »Da nehmen wir doch nüscht für, ist doch klar«, sagt eine der alten Damen. Schließlich ist man ja auch froh, daß man sich irgendwo treffen kann. Und die Leute kämen sogar aus Pankow und Marzahn hierher.

Sonst hat sich in der ruhigen Romain-Rolland-Straße wenig geändert. Die 71er beendet hier an der Wendeschleife noch immer ratternd ihre lange Fahrt durch den Berliner Nordosten. »Das ist noch ländlich hier«, meint der 62jährige Kurt Patzer, der froh ist, daß man sich hier noch kennt und hilft: »Wenn eener nüscht zu essen hat, een Teller bleibt doch immer über — und für den Igel im Jarten reichts ooch noch...«

So ähnlich funktioniert jetzt auch die »Quasselstube«. Denn die Arbeiterwohlfahrt besteht hier in erster Linie aus dem arbeitslosen Ehepaar Marion und Gerhard Thieme und seit neuestem auch aus einem Zivildienstleistenden. Die Thiemes sind über die neugegründete SPD zur AWO gestoßen.

Vor der Wende hatten sie eine Zierfischzucht, »die sich nicht in den Kapitalismus hat hinüberretten lassen«. Jetzt kümmert sich das Ehepaar aufopfernd um die alten Heinersdorfer. »Alles ehrenamtlich«, wie die Senioren dem Reporter lobend berichten. Aus der AWO-Zentrale in West-Berlin sind bisher nur Sachmittel geflossen, Löhne oder Miete werden nicht überwiesen. Dafür sorgen die Heinersdorfer nun halt selbst. AWO steht hier noch wie zu Urzeiten für Selbsthilfe — und nicht für einen verschlungenen Wohlfahrtskonzern. »Was uns früher als Kollektiv propagiert wurde«, schmunzelt der 73jährige pensionierte Ingenieur Gustav Wolske, »das praktizieren wir jetzt.«

Auf die Frage, was ihnen im Seniorentreff am besten gefalle, kommt eine den Westler zunächst überraschende Antwort: »Keine Tagesordnung und kein Stillsitzen.« Wenn man früher den Weg hierher fand, weil man nicht so allein in der Wohnung sein wollte, dann wurde man stets auch mit dem soundsovielten neuen Parteitagsbeschluß beglückt. »Rotlichtbestrahlung«, lästert Kurt Patzer.

Eine kleine Weltreise in der nächsten Woche durchs neue große Berlin in den AWO-Partnerbezirk Schöneberg wird schon jetzt diskutiert. Routenplanung ist eher Männersache. Mit der 71er bis Rosenthaler Platz, umsteigen, denn nach Kottbusser Tor, umsteigen, Hallesches Tor, Nollendorfplatz, umsteigen...

Harte Worte fallen nebenan beim Häkelkränzchen. Auf den »Herrn Kohl« ist man nicht gut zu sprechen. Es dominiert die Angst vor Mieterhöhungen, Strompreisen, Fahrpreisen, Rentenzahlungen — und vor dem Sozialamt. Dort müßten die alten Damen Zuflucht suchen, wenn im nächsten Jahr ihre noch billigen Mieten steigen. Viel mehr als 500 DM Rente kriegt nämlich kaum eine, eher weniger. »Das wäre traurig, wenn es so wird«, sagt eine über 70jährige leise. »Mein Mann hat doch gearbeitet, ein Leben lang, und ich auch, auch ein Leben lang...« Ihre Nachbarin sagt's zum Thema Sozialamt drastischer: »Wenn's soweit kommt, freß ick langsam mein Konto uff, wenn's denn alle is', häng' ick mir uff.« Sparen ist hier weiterhin eine Zwangstugend. »Das bleibt für uns jetzt ewig so, wir sind die Angeschmierten.« Daß heute die Straßenbäume an der Romain-Rolland-Straße gestutzt wurden und die Äste auf den Gehwegen herumliegen, hat man sofort registriert. »Holzklau« könne man das Aufsammeln aber nicht nennen, beruhigt man sich. »Da macht bestimmt keener wat, det brennt doch so jut.« Thomas Kuppinger