Altöl im Ruhestand

■ Wolf Kahlens »Naga-Zyklus« in der Ruine der Künste

Der Ort bewahrt die einladende Freiheit des Ruinengrundstücks. Der Rasen, die Beete, Sträucher und Bäume sind kultiviert, aber nicht kleingärtnerisch zurechtgestutzt. Die Villa ist schußnarbig, und die Simse bröckeln. Über eine schmale Seitentreppe und durch einen engen Flur geht es in den einzigen, haushohen Raum, nur durch Innentreppen und tragende Wände gegliedert.

Wolf Kahlens »Ruine der Künste«, eine »Zeitskulptur«, wie er sagt. Kahlen zeigt dort Altölbilder, die in den letzten zwei Jahren entstanden sind. Auf dünnes, billiges Saugpapier im Folioformat hat er mit dem Pinsel Striche und Flecken aufgetragen, dünnflüssig und schwarz, gesättigt mit Ruß und Eisenstaub. Nach einigen Tagen hatte das Altöl seinen Formverlauf beendet, ist getrocknet und hat sich auskristallisiert in unendlichen Fraktalen.Es sind keine geraden, meßbaren, sich schneidenden Linien, sondern richtige Fraktale zwischen der ersten Dimension der Linie und der zweiten der Fläche. Ähnlich den Höhenlinien auf geographischen Karten bildet das Altöl viele winzige Terrassen mit unendlichem Umfang. Aus der Distanz gesehen, löst sich das sanfte Schwarz der Zentren, wo das Öl aufgetragen wurde, gegen die Ränder hin auf in lichtes Graubraun. Ein Fleck, so Kahlen, dehnt sich im Lauf der Zeit aus auf etwa das Fünffache im Quadrat. Aus der Nähe betrachtet, wiederholt sich das: vielfach gebrochene Ränder, aus denen winzige Ölspuren noch einmal herausgelaufen sind und weitere, zarte Fraktalformen gebildet haben.Diese Bilder sind reine Form. Selbst an Stellen, an denen sie etwas Figürliches oder einen Lichteinfall suggerieren, sind sie, genau besehen, stets Form aus Form wie eine unendliche Schuppenhaut, die in jeder Hinsicht die Schuppenform wiederholt. Kahlen nennt diese Bilder Naga-Zyklus, weil »Naga« Schlange heißt.Altöl ist mehrfach denaturierte Natur, und dennoch bewahrt es das plastische Formprinzip der Natur. Nichts geht verloren; noch das kleinste Partikel nimmt die seiner Molekularstruktur inhärente Form an. Nichts löst sich auf in unterschiedsloses Grau-in-Grau. Vielmehr betonen gerade die zartesten Nuancen ihre Differenz. Es ist das negentropische, antikatastrophische Formprinzip der Natur, das Kahlen mit diesen Bildern aus einem Abfallprodukt sichtbar macht.

Die Bilder sind konkret abstrakt. Man kann aus ihnen weder etwas herauslesen noch absehen von etwas, das drauf wäre. Die Flecken, Kreise und hellen Stellen nicht ölgesättigten Papiers sehen nicht aus wie etwas, sondern sie sind etwas: die selbstähnlichen morphogenetischen Formen des Altöls.

Einige Bilder wurden unter Glas gelegt, als das Öl stellenweise noch feucht war. Der Formverlauf des Altöls folgte diesem Druck des Glases, der chaotischen, unberechenbaren Ordnung selbstähnlicher Verzweigungen wie Eiskristalle oder die Haut auf der Milch. Kahlen interessiert sich für Stoffe und Formen, die nicht sind, was sie sein sollen, sondern der Tendenz folgen, die sie von sich aus wollen: Zufall, der keiner ist, zwecklose Freiheit. Das Altöl ist für Kahlen kein Produktionsabfall, der entsorgt werden muß, kein ausgelaugter Rest, sondern ein Stoff, mit dem jetzt erst, nachdem er seine Schuldigkeit getan hat, auf Formerkundung gegangen werden kann.

In den Dingen und Stoffen steckt ja nicht nur Energie, die sie für Produktion und Fortbewegung wertvoll macht, sondern sie enthalten immer auch Formen, die der Verwertung standhalten. Dem dynamisch-verfügenden Prinzip der Produktion und Verwertung steht das plastisch-fügsame Formprinzip der Natur entgegen. In dieser Spannung operiert seit Beuys die Kunst. Die Dinge sind in jedem Zustand in Form — das haben Kunst und Natur gemeinsam. Allerdings bringt jeder Zustand andere Formen hervor. Der Formverlauf frischen, unverbrauchten Motorenöls wäre anders (eher viskos- amorph) als der mikrokristalline Fraktalverlauf des mit Ruß und Eisenstaub versetzten Altöls. Kunst, die mit solchen Materialien arbeitet und ihren Formen nachspürt, ist darum jedoch nichts weniger als in einem rohen, frischen Sinn »natürlich«. Das Formprinzip der Natur auch als Prinzip künstlerischer Arbeit zu begreifen heißt vielmehr, Kunst als Hochspannung zu erkennen, weit entfernt von Ruhe und Gleichgewicht.

Auf Wolf Kahlens Bildern ist das Altöl zwar zur Ruhe gekommen, aber in äußerst differenzierten Formen und eben nicht als formloser, ausgelaugter Abfall. Der Abfall, diese denaturierte Natur, ist vielmehr unwahrscheinlich vielfältig und enthält »In-Formationen«, die für den Künstler so wertvoll sind wie die Fermente für den Stoffwechsel; sie sind das Formprogramm. Hermann Pfütze

Die Ausstellung ist bis zum 15. Dezember täglich von 12 bis 15 Uhr (wegen des Tageslichts) in der Ruine der Künste in Dahlem, Hittorfstraße 5 (nahe Rostlaube FU), Berlin 33 zu sehen.