Die groteske Karikatur Walesa

■ Adam Michnik begründet, warum er Lech Walesa nicht wählen wird ESSAY

Ich habe nie verheimlicht, daß ich Lech Walesas politisches Talent bewundere. Während der schwierigen Kriegsrechtsperiode schätzte ich die von ihm gewählte Taktik sehr hoch. Ich unterstützte diese hartnäckige und realistische Haltung, indem ich mit ihm zusammenarbeitete. Es war eine abwägende, aber mutige Politik. Sie war vor allem effizient und wurde mit exzellentem Instinkt durchgeführt.

Dann teilten sich unsere Wege. Lech Walesa — heute mein politischer Gegner — ist ein äußerst talentierter Mann, der die Hochachtung seiner Gegner verdient. Ich hege große persönliche Sympathien für ihn. Ich mag seinen Humor; ich bewundere seine Intuition und seine Wendigkeit. Ich bin mir der eminenten Rolle bewußt, die er im Kampf gegen die kommunistische Ordnung einnahm. Aus allen diesen Gründen sehe ich es heute in Trauer mit an, wie der Präsident von Solidarność, Friedensnobelpreisträger, eine unvergleichliche Chance für Polen vergibt, sein eigenes Bild zerstört und unserem Bild in der Welt Unrecht zufügt. Ich leide im Angesicht der Entwicklung Lech Walesas: vom Symbol der polnischen Demokratie zu ihrer grotesken Karikatur.

Lech Walesa möchte Präsident werden. Warum auch nicht? Aber er möchte ein Präsident sein, der per Dekret regiert. Er verhält sich zur Demokratie wie ein Fahrer zu seinem Auto. Sagt er nicht: „Heute führen wir einen Systemwandel durch, also brauchen wir einen Präsidenten, der klotzt: entschlossen, roh, einfach, ohne Selbstzweifel...“? Schlimmer noch: Solidarność ist für ihn nur ein Mittel, um seine Ambitionen zu realisieren. Arrogant erklärt er, er werde mit 80 Prozent der Stimmen siegen. Er droht sogar, sich auf den Aufstand der Straße zu stützen. Er redet nur über sich selbst, nie über sein Programm. Lech Walesa hat immer wiederholt, daß Solidarność eine Wahl treffen muß. Dies hat er erreicht. Alle, die ihm den Weg hätten versperren können, hat er ausgeschaltet. Um dies zu erreichen, hat er es für angebracht gehalten, sie öffentlich als „Eierköpfe“ und „Juden“ zu beschimpfen.

Ich verstehe sein Motiv. Seine Ambitionen sind nicht erfüllt worden. Bei den Wahlen zu den beiden Parlamentskammern hat er nicht kandidiert; er hat sich nicht dazu entschieden den Premierministerposten anzunehmen. Ich denke, sein Motiv war immer das gleiche: Er wollte sein Bild in der öffentlichen Meinung intakt halten. Denn Lech Walesas politisches Ideal ist es, einen außergewöhnlichen Platz einzunehmen: Vollmacht ohne Verantwortung. So stellt er sich auch die Befugnisse des Präsidenten vor. Das überrascht auch gar nicht; Lech Walesa war immer eine charismatische Führungsgestalt, die sich weder an Statute noch an Programme hielt. Er hat immer gehandelt, als ob er demokratische Prozeduren nicht nachvollziehen könne. Am Anfang, im August 1980, war das akzeptabel. Später, während der Kriegsrechtsperiode, entschied sich Lech Walesa, daß die Kenntnis solcher Prozeduren völlig unnütz sei. Ist das nicht der Grund, warum er im Polen des Kriegsrechts ein guter Führer war?

Kein Präsident eines demokratischen Polens

Aber heute wäre Lech Walesa kein Präsident eines demokratischen Polens. Vielleicht wird er die Wahlen verlieren. Vielleicht wird er sie gewinnen. In jedem Fall wird er kein Präsident eines demokratischen Polens sein, sondern ein Destabilisierungsfaktor in der politischen Ordnung, ein Chaot, der Polen vom Rest der Welt isoliert. Lech Walesa behauptet, er sei „kein Anhänger der klassischen, französischen, italienischen oder amerikanischen Begriffe des Präsidentenamtes“. Er werde sich „anders“ gebärden.

Wenn Lech Walesa es schafft, seinen Mythos als „Vater des Volkes“ zu verteidigen, kann er die Wahlen gewinnen. Wie man weiß, hat der Vater das Recht, sich zu besaufen und die Mutter zu verhauen, aber die Kinder haben nicht das Recht, Stimme oder Hände gegen ihn zu erheben. Wenn Polens Seele und Herz von diesem Mythos gelähmt werden, wird Lech Walesa gewinnen, obwohl er deutlich verkündet, daß er die Demokratie nur zur Machtergreifung braucht. Danach, fürchte ich, wird nur das demokratisch sein, was er demokratisch nennt.

Lech Walesa ist unberechenbar, unverantwortlich, unverbesserlich. Vor allem ist er unfähig. Die Unberechenbarkeit war eine Qualität im Kampf gegen den Totalitarismus. In den gegenwärtigen Staatsstrukturen ist sie katastrophal. Die Unverantwortlichkeit entstand aus der Opposition oder dem Untergrund heraus; wer keinen Einfluß auf den Staat hat, ist dem Staat nicht verantwortlich. Lech Walesa ist nicht in der Lage, aus seinen Fehlern Lehren zu ziehen, denn er ist überzeugt, niemals Fehler zu begehen. Schließlich zeugen die Meinungen, die Lech Walesa zu wirtschaftlichen und internationalen Fragen von sich gibt, von einer Unfähigkeit, die nicht nur die Polen, sondern auch ausländische Gesprächspartner verschreckt und lähmt. Lech Walesa war immer der Meinung, daß, was ihm nützt, auch Polen nützt. Ich war lange Zeit derselben Meinung. Heute liegen die Dinge anders. Walesas Präsidentschaftsambitionen können Polen in die Katastrophe führen. Er hat eine brutale Sprache in die politische Debatte eingeführt. Er behauptet: „Es ist ein Skandal! Diese Regierung wird zur Rechenschaft gezogen werden. Ich sage, man wird sie anklagen: daß sie Dokumente vernichtete, daß sie den Kommunisten half, abzuhauen, daß sie Diebstahl an Polen beging.“

Ohne Hintergedanken, auf der Grundlage persönlicher Kenntnisse, möchte ich unterstreichen, daß Lech Walesa nie Populist oder Antisemit war. Doch kraft seiner verrückten Reden von „Eierköpfen“ und seiner Teilung der Menschen in Juden und Nichtjuden hat er sich tatsächlich verneigt vor den Anhängern des anti- intellektuellen und antisemitischen Populismus, die jetzt seine Kandidatur unterstützen werden. Wenn er sagt: „Ich bin ein sauberer Pole, ich bin hier geboren“, klingt mit, daß es „unsaubere“ Polen gibt, die woanders geboren sind. Wenn er die Kritik der westlichen Presse mit Anspielungen kommentiert, „die Fühler mancher Menschen reichen sehr weit“, bedient er sich einer schwerbelasteten Sprache der Obsession.

Beobachter in Westeuropa und den USA schauen sehr aufmerksam auf das postkommunistische Europa. Die anfängliche Euphorie ist der Besorgnis gewichen. Wohin gehen diese Länder? Kehren sie wirklich nach Europa zurück oder nur in ihr altes Universum der populistischen Diktaturen, der ethnischen Konflikte, der ständigen Destabilisierung? Der Schaden, den Lech Walesa der polnischen Sache zugefügt hat, kommt vor allem daher, daß er das Bild eines instabilen Landes verbreitet, von endlosen Konflikten aufgewühlt. Ich denke aber, dieses Bild ist falsch, die agressiven, lärmenden Randbewegungen sind nicht repräsentativ für das Land. Um dies zu beweisen, reicht es allerdings nicht aus, immer zu wiederholen, daß die Polen von Natur aus tolerant und Opfer eines internationalen Komplotts seien. Man darf diesen „Rand“ nicht verschweigen, man muß sich gegen dieses Syndrom des Populismus, des Autoritarismus und der Fremdenfeindlichkeit stellen können.

Welchen Weg wollen wir einschlagen? Den, der zum Europa der demokratischen Ideale führt, oder den, der die Rückkehr zu Traditionen der Vergangenheit bedeutet, verkörpert von autoritären Regimes und höllischen Nationalitätenkonflikten, von religiöser Intoleranz? Von der Antwort auf diese Frage hängt der Platz Polens in Europa ab.

Ich habe mich lange gefragt, ob ich diesen Text schreiben soll. Ich mußte in Betracht ziehen, daß man mich mißverstehen könnte und daß man mich niederer Beweggründe beschuldigt. Doch ich konnte nicht länger schweigen. Denn Lech Walesa verspricht ganz deutlich, das Recht und die demokratischen Prozeduren zu ignorieren; er verspricht Vergeltung an seinen politischen Feinden, laienhafte Reformen und eine Regierung der Unfähigkeit.

Lech Walesa hat sich eines sehr großen Talents fähig erwiesen, Spuren zu verwischen und die Leute zu spalten. Das ist der Grund, warum er so gefährlich ist. Alle seine großen Vorzüge wandeln sich in dramatische Mängel. Das ist der Grund, warum ich Walesa nicht wählen werde. Adam Michnik

Aus: 'Libération‘, 5.11.1990

Übersetzung: Dominic Johnson