Einmal muß es vorbei sein

■ »Henry: Portrait Of A Serial Killer« im Eiszeit-Kino

Für Frauen bedeutete ich den Tod. Ich war nicht der Ansicht, daß sie existieren müßten. Ich haßte sie und wollte jede vernichten, die ich finden konnte. Ich habe 360 getötet, in 36 Bundesstaaten, in drei Ländern. Meine Opfer wußten nie, was mit ihnen passieren würde. Ich machte Erschießungen, Messermorde, Erwürgung, Totschlag, und ich habe an echten Kreuzigungen von Menschen teilgenommen. Im ganzen Land gibt es Menschen wie mich, die sich aufmachen, Menschenleben zu zerstören.« Das ist das erste Geständnis, das Henry Lee Lucas ablegt, als er 1983 in Texas festgenommen wird. Es werden noch weitere folgen. Mal gibt er die Zahl seiner Opfer mit 175 an, mal sind es über den Daumen gepeilt um die 500, und dann streitet er wieder alles ab.

In immerhin 60 Fällen ist die Täterschaft Lucas' ausgemachte Sache. Wieviel es nun genau sind, wird man wohl nie erfahren. Zur Zeit wartet Henry Lee Lucas in Huntsville/Texas auf seine Hinrichtung. John McNaughton hat den Film zu Amerikas vielleicht effektivstem Serienkiller geliefert.

Auf dem diesjährigen Filmfestival in Locarno/Schweiz hat John McNaughton mit seiner Low- budget-Produktion (schlappe 100.000 Dollar) nicht nur das Publikum haarscharf in zwei Teile (begeisterte Zustimmung, empörte Ablehnung) gespalten, sondern auch die Kritikergemüter zum Kochen gebracht. Natürlich ging es um die gute alte Blut-, Sex- und Gewaltfrage: Darf man, darf man nicht, regt es an, regt es ab, ist es Schund oder Kunst? Eine von beiden Seiten durch und durch pädagogisch geführte Diskussion, die von der amerikanischen Filmaufsichtsbehörde MPAA schon eindeutig entschieden wurde. Henry: Portrait Of A Serial Killer bekam ein »X« verpaßt, was den Film offiziöserweise zum Porno macht und eine kommerzielle Auswertung verhindert. Noch hat sich jedenfalls kein Großverleih gefunden, der McNaughtons Killerporträt im größeren Rahmen in die Kinos bringt. Dadurch kommt das Eiszeit in die Position, das erste deutsche Kino zu sein, das Henry... regulär im Programm hat (mal abgesehen von Festival- und Sondervorführungen).

John McNaughton war nicht daran gelegen, eine Killerbiographie (Kindheit, erster Mord, Gefängnis, Entlassung, noch mehr Morde, endgültige Aburteilung) auf die Leinwand zu bringen, er hat vielmehr Leben und Werk Henry Lee Lucas' als Inspirationsquelle für einen der radikalsten Filme der achtziger Jahre genutzt. Vielleicht nur noch vergleichbar mit Ghosts Of The Civil Dead. Unmißverständlich eröffnet McNaughton mit einer Handvoll verheerend zugerichteter Mordopfer: erdrosselt, erschossen, erstochen, erschlagen. Zeitgenössische Stilleben des »american way of death«. Henry wütet auf vielfältige Art und Weise. Nach diesem ersten Schock gleich der zweite: Henry ist kein geifernder »maniac« mit blutunterlaufenen Augen und rasselndem Atem, er ist eine nette Erscheinung und bleibt es auch bis zum Schluß. Er sieht aus wie der kleine sympathische Bruder von Ex-Fußballnationalspieler Hans-Peter Briegel.

Zusammen mit Otis lebt er in einer Winzwohnung in einem Vorort Chicagos. Eine Gegend, die allein schon zu einem regelmäßigen Wochenendamoklauf einlädt. Später werden Henry und Otis ihre Wohngemeinschaft zu einer Mordgemeinschaft ausbauen. Allerdings kommt Otis erst nach anfänglichem Zögern auf den Geschmack. Sein Coming- bzw. Shooting-out hat er nach einem ziemlich frustierenden Tag, als er ein wenig gedankenlos zu Henry sagt: »Ich glaube, ich könnte jetzt irgend jemanden umlegen.« Und genau das machen sie dann auch, sie legen irgend jemanden um.

McNaughton hat es nicht nötig, literweise Blut und Brägen durch die Luft fliegen zu lassen oder in Eingeweiden rumzuwühlen. Er arbeitet äußerst präzise mit der Angst vor Serienmördern, die mir nichts dir nichts jemanden töten. Einfach so. Das Entsetzen wird nicht rationalisierend wegerklärt und bleibt darum eine konstante, unfaßbare Größe. Du könntest die/der nächste sein. FBI- Schätzungen zufolge gibt es in den USA einige hundert, die sich am großen Umlegen beteiligen.

Insbesondere mit einer Szene hat John McNaughton die bisherigen Grenzwerte des unerträglichen Realismus weiter vorangetrieben. Eines Abends ist es Henry und Otis danach, eine ganze Familie abzuschlachten und dabei gleichzeitig eine neue Videokamera auszuprobieren. Während sie also Mutter, Vater und Sohn mit Faustschlägen, Fußtritten und Messerstichen zu Tode traktieren, zeichnen sie alles gewissenhaft auf. Später werden sie, stolz und vergnügt auf dem Sofa sitzend, das selbstgemachte Horrorvideo anschauen. Doch selbst hier noch kann McNaughton mit einem Anflug von Horror aufwarten. Am Ende des Gemetzels nimmt Otis eine Hand der Mutter, winkt damit umher und fordert die Tote auf, in die Kamera zu lächeln. Das nenn' ich Heim- und Familienvideos auf den Punkt gebracht.

Um noch mal auf die pädagogische Diskussion zu kommen: Henry: Portrait Of A Serial Killer ist keine psychopathologische Fallstudie. Es handelt sich tatsächlich um ein Porträt. Eine kurze Zeitspanne erleben wir, wie Henry seine Tage und Nächte verbringt. McNaughton ist fast jenseits von Analyse und Psychologie, ohne Henry dabei zur Inkarnation des absolut Bösen zu machen. Auf den obligatorischen Happen Kindheitstrauma kann allerdings auch McNaughton nicht verzichten, aber der kann und soll nicht mehr sein als der Hinweis darauf, daß jemand wie Henry nicht aus dem Nichts kommt. Die abgegebene Erklärung — 14jähriger Henry tötet Mami wegen Rumhurerei — wirkt denn auch angesichts der unaufhaltsamen Mordgier geradezu lächerlich. Übrigens kann auch die Liebe Henry nicht stoppen. Eine mögliche Liebe zwischen ihm und Otis' Schwester scheitert daran, daß Frauen, die Henry sexuell bedrängen, notwendigerweise Huren sein müssen und darum umgebracht gehören.

John McNaughton hat mit Henry... gegen einige Regeln verstoßen. Er hat Henry zur Identifikationsfigur des Films gemacht, er liefert weder eine Erklärung noch eine Verteufelung, er gibt der Liebe keine Chance, und er ist noch mitten im größten Grauen zu kleinen Scherzen aufgelegt. Keine Frage, daß auch der Schluß ein einziger Regelverstoß ist. Unbehelligt und unbestraft fährt Henry auf der Suche nach neuen Opfern die Straße runter. John McNaughton hat sich das »X« der obersten amerikanischen Filmzensurbehörde redlich verdient. Dralle

[Also, mag es auch noch so pädagogisch sein: Jeder noch so »erfolgreiche« Massenmörder ist ein Waisenknabe gegen jeden General im Kriegsfall, und zur »Normalität«: Die meisten KZ-WächterInnen waren auch keine geifernden »Irren«! d. säzzer]

Henry: Portrait Of A Serial Killer (OF). USA 1988. Regie: John McNaughton. Mit Michael Rooker, Tracy Arnold, Tom Towles. Im Eiszeit-Kino Do. bis Mo. um 21 Uhr 30 und Di. bis Fr. um 23 Uhr 30.

Weiterführende Literatur: Max Call: Hand Of Death · The Henry Lee Lucas Stroy (Presscott Press 1985). Elliott Leyton: Hunting Humans (London 1989). Jack Levin und James Alan Fox: Mass Murder · America's Growing Menace (Plenum Press, New York 1985)