Österreich will volle Souveränität

■ Mehrere Artikel aus Staatsvertrag gestrichen/ Österreich darf jetzt auch mit BRD Waffenhandel treiben

Berlin (afp/taz) — Nachdem der große Nachbar im Norden seine volle Souveränität wiedererlangt hat, will auch Österreich keine Sonderregelungen mehr akzeptieren: Am Dienstag beschloß die Regierung in Wien, einige Artikel des im Mai 1955 unterzeichneten Staatsvertrags für obsolet zu erklären. Die vier Signaturstaaten, die USA, die UdSSR, Großbritannien und Frankreich werden in den nächsten Tagen offiziell von dieser Entscheidung auf diplomatischem Weg informiert werden, erklärte der sozialdemokratische Bundeskanzler Vranitzky. Gleichzeitig bekräftigte er die Treue zum Staatsvertrag insgesamt, wie auch die Verpflichtung, keine nuklearen, biologischen oder chemischen Waffen zu besitzen, zu produzieren oder mit ihnen zu experimentieren.

Bei den Passagen, die gestrichen werden sollen, handelt es sich um die Artikel 12 bis 16 und 22, in denen Österreich vor allem militärische Beschränkungen auferlegt wurden. Danach galt für Personen, die Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen waren, ein Beschäftigungsverbot beim Bundesheer. Österreich durfte keine Spezialwaffen, wie Raketen oder Massenvernichtungswaffen besitzen oder herstellen und kein Kriegsmaterial deutscher oder japanischer Herkunft verwenden. Auch der Ankauf von Zivilflugzeugen deutschen oder japanischen Ursprungs war verboten — ein Verbot, das bereits seit 1979 durch den Ankauf des Airbus durch die Austrian Airlines gebrochen wurde.

In Österreich wurde durch die deutsche Wiedervereinigung und den Zwei-plus-vier-Vertrag eine Diskussion über die im Staatsvertrag vorgesehenen Einschränkungen der österreichischen Souveränität ausgelöst. Die einseitige Erklärung Finnlands vom vergangenen September, in der einige Passagen des Beistandspaktes mit der Sowjetunion aufgekündigt wurden, gab schließlich den Anstoß, in ähnlicher Weise vorzugehen.

Außenminister Alois Mock erklärte, der Beschluß zeige, daß Österreich „nicht diskriminiert werden soll und spiegelt auch den Übergang vom Nachkriegseuropa zu einem neuen Europa wider, das gekennzeichnet ist von gleichberechtigten souveränen Staaten“.

Der Staatsvertag aus dem Jahr 1955 stellte die Souveränität Österreichs wieder her und beendete eine zehnjährige Besatzungszeit durch die vier alliierten Mächte. Die Neutralitätspolitik des Landes, die seit 1955 in der österreichischen Verfassung steht, wird durch die Änderungen im Staatsvertrag nicht beeinflußt. In den vergangenen Wochen hatte die rechtsextreme „Freiheitliche Partei Österreichs“ (FPÖ) die Neutralitätspolitik als „überholt“ bezeichnet und ihre Aufhebung verlangt. Die Regierungsparteien, die konservative Volkspartei ÖVP und die sozialdemokratische SPÖ hingegen halten strikt an dem Neutralitätsgebot fest, das sie auch in die angestrebte EG-Mitgliedschaft hinüberretten wollen. Nach Ansicht von Vranitzky wird die Neutralität „ihren Beitrag zu einem künftigen System kollektiver Sicherheit leisten“.

In einer ersten Reaktion erklärte die sowjetische Regierung, sie habe „angesichts der veränderten Situation in Europa“ keine Einwände gegen die österreichischen Streichungen. Gleichzeitig bezeichnete sie den Staatsvertrag als wichtigen Bestandteil der Nachkriegsordnung. dora