Shekhar — der ewige Oppositionelle

Shandra Shekhar oder Rajiv Gandhi, die beiden Gegner V. P. Singhs, haben nicht viel gemeinsam  ■ Aus Neu Delhi B. Imhasly

In gespannter Atmosphäre dauerte gestern die Unterhaus-Debatte um das politische Schicksal des indischen Premierministers V.P. Singh an. Die Entscheidung, ob sein parteiinterner Gegenspieler Chandra Shekar, Kongreß-Führer Rajiv Gandhi oder allen Unkenrufen zum Trotz doch wieder V.P. Singh mit der Regierungsbildung beauftragt wird, liegt letztlich beim Präsidenten R.Venkataram, sonst müßten Indiens Wähler ihr Votum abgeben.

Es war eine Lektion in Kontrasten. Die beiden Politiker, die sich am Dienstag vor dem Haus Rajiv Gandhis die Hände schüttelten, hätten nicht unterschiedlicher sein können: der Gastgeber in einem blütenweißen Shalwar Kamiz, in seinem blassen und glatten Gesicht ein höfliches und gönnerhaftes Lächeln, das er immer trägt, zu dem er aber nun besonders Gelegenheit hatte. Rajiv Gandhi empfängt seinen früheren Widersacher Chandra Shekhar, der tags zuvor die regierende Janata- Dal-Partei gespalten hat und nun auf der Suche nach Bundesgenossen ist. Auch Chandra Shekhars Lächeln wirkt künstlich, aber nicht weil er es immer trägt, sondern weil er sonst nie lächelt. Sein Markenzeichen ist der düstere Blick, der zu seinem kantigen „Rajput-Gesicht“ ohnehin besser paßt, genauso wie zum groben Baumwolltuch seines zerknitterten Kurta-Hemdes.

Die beiden Gestalten sind typisch für zwei unterschiedliche Politikerkarrieren: Rajiv Gandhi auf der einen Seite, mit dem Silberlöffel im Mund geboren, der bereits als Kind von Staatsmännern auf den Arm genommen wurde. Mutter Indira mußte den Piloten- und Computerfan zur Politik zwingen, und das höchste Amt fiel ihm — nach der Ermordung Indira Gandhis 1984 — in den Schoß. Dagegen Chandra Shekhar, der sich seit nun bald dreißig Jahren im Parlament hocharbeiten mußte, nicht weil es ihm an Intelligenz fehlte, sondern weil er immer ein unbequemer Partner war. Das mußte zuerst Frau Gandhi spüren.

Zwar vertrug sich der Sozialismus des jungen Kongreßabgeordneten aus Bihar am Anfang gut mit ihrer früheren Linkspolitik, als sie nacheinander Industrien, Banken und Versicherungen verstaatlichte. Trotzdem blieb er ein störrischer Jungtürke, der sich mit ihrer pragmatischen Politik nicht anfreunden konnte. Als Frau Gandhi 1975 den Ausnahmezustand ausrief, war er der einzige führende Kongreß-Politiker, der zusammen mit vielen Oppositionellen verhaftet wurde.

Aus der Haft entlassen, wurde er Mitglied und Präsident der Janata- Partei, welche den Kongreß bei den Wahlen von 1977 entscheidend schlug. Chandra Shekhar verlor das Rennen um das Amt des Ministerpräsidenten, weil er, wie man ihm nachsagt, den Posten nur widerwillig gesucht hatte. Er blieb in der Opposition, auch wenn seine Partei an der Regierung war, ein Spielverderber und Querschläger, der sich mit den Jahren — er ist heute 63jährig —, den Mantel des Mahners umlegte, aber dennoch nie ganz den Blick vom höchsten Amt abwenden konnte.

Er übernahm wiederum die Präsidentschaft der Partei, war aber weder als Parteimanager noch als Parteiideologe erfolgreich. Statt eines Programms strengte er 1983 eine „Padvatra“ — einen langen Marsch von der Südspitze Indiens bis zum Fuß des Himalaja — an. Der politische Effekt dieses Unternehmens ging jedoch in der Erschütterung unter, welche Indira Gandhis Ermordung 1984 auslöste und die Rajiv Gandhi an die Macht katapultierte. Chandra Shekhar blieb Parteipräsident, doch als sich 1988 mehrere Oppositionsparteien zusammenfanden, um gegen das „teuflische Regime“ (Shekhar) des Kongresses eine gemeinsame Opposition zu schmieden, war es wiederum nicht er, der zum Führer der neuen Janata Dal gewählt wurde, sondern der Überläufer V.P. Singh, der noch ein Jahr zuvor ein Minister Gandhis gewesen war. Nach dem überraschenden Wahlsieg der Janata Dal im November 1989 kam das Amt des Ministerpräsidenten in Griffnähe. Er zögerte und wurde von Singh ausgespielt.

Chandra Shekhar zog sich murrend in die vertraute innerparteiliche Opposition zurück und sammelte Kritiker und Unzufriedene um sich. Die Häufung von Fehlern und Unterlassungen der Regierung — von Kaschmir und Punjab bis zur Kastenpolitik und der Handhabung des religiösen Zwiespalts zwischen Hindus und Muslimen — gab ihm rasch die Gewißheit, daß auch diese Janata- Regierung ihre Amtszeit nicht durchstehen würde.

Letzte Woche gab er schließlich im bekannten, enthüllend verhüllenden Jargon zu Protokoll, daß er „kein Amt suche“, sich aber „der Verantwortung nicht entziehen würde“, falls sie ihm aufgebürdet würde. Am 5. November machten ihn 68 Abtrünnige zum Präsidenten der „wirklichen“ Janata-Dal-Partei, die er als Janata Dal-Socialist eintragen ließ. Mit 68 von 524 Parlamentsmandaten läßt sich aber noch kein Staat machen. Daher die Aufwartung bei Rajiv Gandhi, Präsident der mit 195 Mandaten stärksten Fraktion. Sollte Shekhars Versuch diesmal gelingen, würde er endlich aus seiner oppositionellen Rolle heraustreten, und sei es nur für ein paar Monate. sl