Die multikulturelle Gesellschaft als Zufallsprodukt

■ Danielle Juteau, Professorin für Soziologie an der Universität Montreal, über das Selbstverständnis der multikulturellen Gesellschaft in Kanada INTERVIEW

taz: Hier in Deutschland quält man sich seit ein paar Jahren mit der Debatte herum, ob eine multikulturelle Gesellschaft gut oder schlecht ist. In Kanada gibt es bereits ein Ministerium für multikulturelle Angelegenheiten...

Prof. Juteau: Es wurde gegründet, kurz nachdem der „Canadian Mulurculturalism Act“ 1988 verabschiedet worden war. Die multikulturelle Gesellschaft spielt im Selbstverständnis der kandadischen Gesellschaft mittlerweile eine entscheidende Rolle. Die Politik des Multikulturalismus hat allerdings schon vor 19 Jahren begonnen. In Kanada hat es aufgrund der Konflikte zwischen der englisch- und französischsprachigen Gruppen eine lange Debatte um Zweisprachigkeit und Bikulturalität gegeben. Diese beiden Gruppen sahen sich als „Gründernationen“ an. Kein Wort also von den indianischen Nationen, die von den Weißen unterworfen wurden. Kein Wort auch über die Menschen aus anderen ethnischen Einwanderergruppen. In Folge dieser Debatte wurden schließlich Englisch und Französisch als offizielle Sprachen eingeführt. Darauf erhoben schließlich die Vertreter anderer ethnischer Gruppen ihre Stimmen und verwehrten sich dagegen, daß hier immer nur von Bikulturalismus gesprochen wird. Auf diesen Druck hin ein multikulturelles Konzept entwickelt. Multikulturalismus war bei uns nie ein ideologisches Konzept, sondern ein Zufallsprodukt. Man hat uns im Unterschied zum „Schmelztiegel“ der USA immer als „Mosaik“ beschrieben. Das ist zutreffend, aber es war eben nie geplante Politik — im Gegenteil.

Welche Kompetenzen hat nun ein Ministerium für multikulturelle Angelegenheiten?

Der zuständige Minister ist verantwortlich für vier Programme; das eine befaßt sich mit den Beziehungen ethnischer Gruppen; das zweite mit Sprache und Kulturerbe; das dritte mit politischer Partizipation; und viertens ist er dafür verantwortlich, daß der „Multiculturalism Act“ auf Bundesebene durchgesetzt wird. Er hat also die Möglichkeit, in anderen Behörden zu intervenieren. Dadurch hat man verhindert, daß dieser Bereich in einer Behörde gettoisiert wird und die anderen Ministerien weitermachen, als wäre nichts gewesen.

Sie haben während des Kongresses Kritik am kanadischen Konzept der multikulturellen Gesellschaft geübt, weil der Begriff nicht politisch angewandt würde...

Man sollte bei der Diskussion um Multikulturalismus auch immer sagen, was das Konzept leisten kann — und was nicht. Erstens: Es kann nicht die politische und ökonomische Vorherrschaft der weißen, französischen und englischen Bevölkerungsgruppe aufheben. Zweitens: Es ist nach Ansicht vieler keine Antwort auf den Konflikt zwischen Quebec und dem englischsprachigen Kanada. Und diese beiden Konflikte können die kanadische Gesellschaft schon bald grundsätzlich in Frage stellen. Davon mal abgesehen, hat das Konzept der multikulturellen Gesellschaft in Kanada lange darunter gelitten, daß es viel zu sehr kulturelle Differenzen als Ursachen der Probleme angesehen hat. Das hat mich auch auf diesem Kongreß immer wieder erstaunt: Immer wieder wurde hervorgehoben, daß das mangelnde Verständnis zwischen den ethnischen Gruppen zentrales Problem sei. Soviel kann man vielleicht doch aus den kanadischen Erfahrungen lernen: Kultureller Austausch und Verständnis ist durchaus eine noble Sache, aber die meisten Probleme rühren von der ökonomischen Ungleichheit her, mit der Immigranten konfrontiert sind. Sie kriegen keine Jobs, keine anständigen Wohnungen, die Gewerkschaften kümmern sich nicht um sie. Die zentralen Ansätze sind also Chancengleichheit und Antidiskriminierungsgesetze. Interview: Andrea Böhm