Der deutsche Schicksalstag: 9.November

Gedenkveranstaltung in der jüdischen Gemeinde Berlin/ Galinski fordert: Einwanderungsstopp für Sowjetjuden nach Deutschland aufheben  ■ Von Anita Kugler

Berlin (taz) — So überfüllt war der große Saal im Jüdischen Gemeindehaus Berlin noch nie. Weit über 1.000 Menschen drängten in den Saal, lagerten auf dem Fußboden, reihten sich an den Wänden entlang. Sie alle waren am vergangenen Dienstag gekommen, um zu hören was neun prominente Gäste über „1918 - 1923 - 1938 - 1989“ zu sagen haben. „Der Streit um den 9. November in der deutschen Geschichte“ hieß die Veranstaltung.

Wären so viele Zuhörer gekommen, wenn es den 9. November 1989 nicht gegeben hätte. Heinz Galinski ist davon überzeugt, daß es „gewisse Tendendenzen“ gibt, die Pogrome gegen die Juden im November 1938 zu vergessen. „Dieser Tag wurde nie als Gedenktag akzeptiert“, obwohl es der Demokratie gut angestanden hätte. „Denn wären die Deutschen, wie im Herbst 1989 gegen die DDR, auch schon vor 1945 auf die Straße gegangen, dann wäre es nicht zu solchen Auswüchsen gekommen.“ Skeptisch ist Galinski auch über die Entwicklung der politische Kultur in Deutschland. Mit großer Sorge beobachtet er die Wellen von Friedhofsschändungen im Süden von Deutschland, den aufflammende Rechtsradikalismus in der DDR und bitter kritisierte Galinski, daß in der Präambel des Einigungsvertrages jeglicher Hinweis auf die Ursachen der deutschen Teilung fehle. „Vom Nachdenken über eine Gestaltung der Demokratie sind wir weiter enfernt denn je“, sagte er. Unbedingte Pflicht sei es jetzt, den Einwanderungsstopp für Sowjetjuden nach Deutschland aufzuheben. „Ohne diese Zuwanderung kann es kein jüdisches Leben in Deutschland mehr geben.“

Galinskis Widersacher war aus Paris angereist. Alfred Grosser, neben Galinski der einzige jüdische Gesprächsteilnehmer, aber seit 1937 mit französischem Paß, sang ein Loblied auf die alte Bundesrepublik und das neue, einig Deutschland. „Kein Staat hat so viel über die eigene Vergangenheit nachgedacht wie Deutschland“, sagte Grosser, und kein Staat hat soviel Lehren daraus gezogen wie die alte Bundesrepublik. Sie habe schon 1949 die „Haftung“ für die nationalsozialistischen Verbrechen angenommen. Die deutsche Vereinigung sei, weil auch die alte DDR mit der Ehrenschulderklärung der Volkskammer diese „Haftung“ akzeptiert hat, „eine Überwindung des Nationalsozialismus“. Er freue sich über Deutschland, sagte Grosser und verwies auf Frankreich, in dem heute noch jeder ein Nestbeschmutzer genannt wird, der es wage, an der moralischen Überlegenheit der Resistance zu kratzen. „Auch Widerstandskämpfer haben gefoltert“, so Grosser, und deshalb sei die einzige Lehre, die ein Jude aus der Shoa ziehen kann, die, „nie zu schweigen, wenn im Namen des Volkes Verbrechen begangen werden. Auch nicht, wenn sie gegen palästinensische Kinder gerichtet sind“.

Grossers Thesen des guten Deutschland stießen vor allem auf den vehementen Widerspruch von Heinz Galinsiki. Und in der Tat, die Gegensätze zwischen diesen beiden könnten nicht größer sein. Da kollodierte die akademische Abgeklärtheit des französischen Deutschlandkenners Grosser mit dem Schmerz eines preußischen Judens, der das Scheitern der deutsch-jüdischen Symbiose im eigenen Leben erfahren mußte. Galinskis Lehre aus der Shoa ist die Mahnung und die Erinnerung, das Einfordern einer spezifischen deutschen Verantwortung gegenüber allen Opfern des Nationalsozialismus. Es ist geradezu zwangsläufig, daß Galinsiki die relativierenden Thesen von Grosser als dem 9. November 1938 „unangemessen“ und „beleidigend“ empfindet.

Widerspruch gegen Grosser kam aber auch von Antje Vollmer. Nie hätte die Bundesrepublik mehr als eine „Geldhaftung“ für die nationalsozialistische Barbarei übernommen, und nie hätte die DDR als betont „antifaschistischer Staat“ mehr als eine „Moralhaftung“ angenommen. Die alte Teilung zwischen Ost und West habe es geradezu verhindert, den Ursachen wirklich auf den Grund zu gehen. „Wenn ich eine Chance für die Zukunft sehe“, sagte sie, dann die, die Lehren aus dem Nationalsozialismus „jetzt ohne trennende Ost- West-Feindbilder zu ziehen“.