Moskauer Militärparade überschattet

Allein in Moskau gab es drei Gegendemonstrationen zu den offiziellen Jubiläumsfeiern/ Attentat auf die sowjetische Führung wurde vereitelt/ Gorbatschow verteidigt die Oktoberrevolution  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Zwei Schüsse gab ein 38jähriger Leningrader Arbeiter gestern während der Feierlichkeiten zum Jahrestag der Oktoberrevolution vor dem Kaufhaus GUM auf dem Roten Platz ab. Der Vorfall ereignete sich kurz nach elf Uhr, als die auf die Militärparade folgende offizielle „Marschkolonne der Werktätigen“ am Lenin- Mausoleum vorbeizog. Auf dem Mausoleum befanden sich zu diesem Zeitpunkt die gesamte sowjetische Führung, aber auch Boris Jelzin und Bürgermeister Popow.

Die Fernsehdirektübertragung vom Roten Platz wurde in diesem Moment für 15 Minuten unterbrochen. Wie ein Mitarbeiter des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes KGB der taz mitteilte, wurde der Schütze ergriffen, als er die Waffe hervorholte und abzog. Die geplante Zielrichtung der Schüsse, die aufgrund des Handgemenges in die Luft gingen, kann daher erst im Laufe des Untersuchungsverfahrens geklärt werden. Verletzt wurde niemand.

Die beiden Gegendemonstrationen Moskauer Oppositioneller verliefen trotz gespannter Atmosphäre friedlich. In allen drei baltischen Republiken organisierten die Militärkommandeure entgegen den Beschlüssen der Regierungen Paraden, wobei die in Vilnius nach Sitzstreiksabgebrochen wurde.

In der ukrainischen Hauptstadt Kiew hatte das Oberkommando am Dienstag kurzfristig beschlossen, die Militärparade von der zentralen Flanierstraße Krestschatik auf den Siegesplatz zu verlegen. Bis tief in die Nacht zum Mittwoch diskutierten dort Bürger die Möglichkeit einer Sitzblockade, von der die Führer der ukrainischen Volksfront „Ruch“ abrieten. Dennoch ließen sich etwa 1.000 Mitglieder des unabhängigen Jugendverbandes auf dem Platz nieder, der am Morgen von der Miliz geräumt wurde.Die kurze Festansprache von zwölf Minuten auf der offiziellen Jubiläumsfeier hielt zum ersten Male Gorbatschow selbst. Er forderte, daß über den Massensäuberungen der Stalin-Zeit die Errungenschaften des Kommunismus nicht in Vergessenheit geraten dürften. Er rief zur Einheit aller Bürger auf. Die Perestroika sei eine Chance zur Verwirklichung der ursprünglichen Forderungen der Revolution: „die Fabriken den Arbeitern, das Land den Bauern, den Völkern Frieden und Selbstbestimmung für alle Nationen“.

Während der von der Moskauer KP organisierten anschließenden Demonstration wurden von Mitgliedern von der konservartiven „Vereinigten Front Wektätiger“ Stalin- Porträts mitgeführt. Ihre Losungen richteten sich unter anderem gegen den Vorsitzenden des russischen Obersten Sowjet, Jelzin. Jelzin selbst, der an der offiziellen Kranzniederlegung am Grabe Lenins teilgenommen hatte, mischte sich unter die Teilnehmer der oppositionellen Demonstration, die wenig später als zweite über den Roten zum Mange- Platz zog.Zusammen mit Moskaus Oberbürgermeister Popow wurde Jelzin auch auf dem nach Anzahl der Teilnehmer größten dritten Meeting Moskaus auf dem „Alten Platz“ mit Ovationen begrüßt. Auf beiden oppositionellen Veranstaltungen wurde der 7. November als Tag der Trauer begangen und vor allem der Rücktritt der UdSSR-Regierung und Michail Gorbatschows gefordert. Popow rief dazu auf, Bürgerposten an den Hauptwarenumschlagsplätzen in und um Moskau zu organisieren, um die Sabotage der Mafia gegen die Versorgung der Hauptstadt zu unterbinden.