Kreuzberg multikulturell

■ Lokalhistorische Erinnerungen an einen großen Tag KURZESSAY

Wenn ich den Begriff „multikulturell“ höre, riecht es nach angebranntem Fett. Das ist eine ganz persönliche Wahrnehmung. Früher habe ich immer gedacht: multikulturell ist, wenn wir nebeneinander in der U-Bahn sitzen, er liest die Zeitung in seiner Sprache, ich lese in meiner und wir stören einander nicht. Aber das war schon eine Ewigkeit her, vor der Maueröffnung. Nach diesen schicksalshaften Ereignissen konnte man in der U-Bahn keine Zeitungen mehr lesen, denn den Raum, der früher für die Zeitung bestimmt war, haben DDR-Bürger und ihre Kartons besetzt, die multikulturell rochen. Nicht die Kartons, sondern die DDR- Bürger. Das war erstaunlich. Ich habe gedacht, alle Deutschen müßten gleich riechen. Aber diese rassistischen Vorurteile haben sich als unsauber erwiesen. DDR-Bürger, besonders aus der Provinz, rochen gemischt: das waren alte vergessene Gerüche von der jahrelang in der Truhe liegenden Kleidung, von warmen Kühen und Angstschweiß, in den die Bauern häufig geraten, wenn sie sich in einer großen und fremden Stadt befinden. Und nur einmal duftete es nach Videorekorder. Das war nicht multikulturell, wie auch die Vergewaltigung, die bei uns auf der Treppe im Hinterhaus stattgefunden hat. Ich habe ganz deutlich gehört, daß jemand heulte, konnte aber nicht die semantische Bedeutung der Wehklagen verstehen. Ich wußte nicht, ob es als Ausdruck der Freude oder als Hilferuf interpretiert werden mußte. Denn ich hatte schon einmal die Polizei gerufen, als aus der Nachbarwohnung so erschreckende Töne hallten, daß das Kind anfing zu weinen. Und als die Polizei die unabgeschlossene Wohnung betrat, wo auf der Tür das Schild „Fertizentrale“ angemacht war und wo im Schaufenster eine nackte Schaufensterpuppe mit einer Glühbirne im Popo stand, die man ausschalten konnte (was ich auch häufig getan habe), fand sie das spaßmachende Pärchen beim Höhepunkt ihres üblichen Bettrennens. Nach diesem Erlebnis rufe ich sehr ungern die Polizei, wenn ich so etwas zu hören bekomme, was hier in Kreuzberg ziemlich oft passiert. Die Menschen leben hier sehr laut. Den anderen zu reizen, scheint ihnen das einzige zu sein, was ihren sozialen Status erhöht. Deswegen war ich gehemmt, die verbrecherische Tat zu unterbrechen. Dafür wurde ich aber sehr bald bestraft, und zwar am 3.Oktober, als ein frei fliegender Stein plötzlich meinem Kopf nahekam, obwohl ich überhaupt nicht wußte, daß gerade in diesem Augenblick die Wiedervereinigung gefeiert wurde. Das habe ich erst mitgekriegt, als unser arbeitsloser Nachbar, der im Hause gegenüber lebt, sich derart aus dem Fenster beugte, daß er fast herunterstürzte, seine Hand nach vorne streckte und rülpsend „Sieg Heil“ den Skinheads zuschrie, die sich gerade in ihre im voraus vorbereiteten Verteidigungsstellungen zurückzogen. Es ist nicht auszuschließen, daß dieser Schwanengesang von den illegal in unserem Haus lebenden polnischen Schwarzarbeitern falsch interpretiert wurde. Denn am nächsten Tag wurde ich von russischen Mutterflüchen aufgeweckt. Die unter Schock stehenden Bauarbeiter hatten die Fensterrahmen auf den Kopf gestellt eingemauert, wofür sie vom Kapo, daß heißt vom Bauleiter, sofort ohne Monatslohn entlassen wurden. Nachdem wir noch die ganze Reihe von Arbeitern aller Hautfarben erlebt haben, bis dann ein echter Deutscher mit Berliner Akzent, aber leider Produkt der Nachkriegsbesatzungspolitik, also nicht ganz weiß, um genauer zu sein: ein bißchen schwarz, kam. Was das angebrannte Fett anbelangt, das ist gleichwohl eine andere Geschichte: Ganz zufällig haben am nächsten Tag die Türken Hammel gebraten, direkt an der ehemaligen Mauer, auf dem Kinderspielplatz. Die Hammel waren nackt, so nackt wie nur Opfer sein können, sie wurden schutzlos auf den hölzernen Pfahl gepfählt. Das Feuer leckte ihre Hüften, der Rauch stieg in den Himmel und laute türkische Musik erklang — ehe, ehe, ehe —, die genausogut zum Ort paßte, wie der nackte Hammel zur asphaltierten Opferfläche des städtischen Erholungsplatzes. Die dunklen Frauen schnitten Brot, dicke Kinder schleuderten leere Bierdosen. Ein DDR-Opa stand in der Nähe, wortlos auf die Türken starrend. Auf seinem Gesicht spiegelte sich die ganze Skala der Gefühle: Horror, Empörung, Verlorenheit. Vielleicht wollte er seinen Augen nicht glauben: die fremden Menschen braten auf der Straße ihren unkultivierten Hammel, hier in der Stadt Friedrichs und Bismarcks... Ob das Leben wirklich vergeblich war? In der zukünftigen Hauptstadt muß man das verbieten... Der Opa hat mit seinem Bein unwillkürlich aufgestampft. Im selben Augenblick hat sein Enkel auf der Grünanlage, wo ein Schild „Hunde nicht gestattet“ steht, ein schönes Häufchen aus braunen Würstchen gemacht. „Opa, Opa“, hat er gerufen. Der Opa hat dem Enkel zugelacht und aus seiner Tasche ein Stück Toilettenpapier mit der Aufschrift „Danke“ gezogen, das er neulich bei „Drospa“ für die Reste seines Begrüßungsgeldes gekauft hat. Das Papierchen ist dort liegengeblieben, wo das Schild „Hunde nicht gestattet“ stand. Der Opa zog Richtung Treptow-Park, das angebrannte Fett roch nach Unabhängigkeitserklärung. Sonja Margolina

Die Autorin stammt aus der Sowjetunion und lebt als Übersetzerin in Westberlin.