Vernunft wider „säuische Hausfrau“

■ Brem. Presseforschung: Bibliographisches Handbuch zur „Volksaufklärung“ im 18.Jh.

Was uns heute der „Ratgeber Kinderkrankheiten“ oder der „Biologisch-dynamische Pflanzkalender“ sind, war so manchem Altvorderen im 18.Jh. „Der kluge Haus-und Feldmann“ oder das „Noth-und Hülfsbüchlein für Bauersleute“. Mit geradezu missionarischem Eifer wurden solche und ähnliche Schriften damals von Vertretern der „gesitteten Stände“ unters „Volk“ gebracht. Illuminiert vom Wolff'schen und Kant'schen Geist der Aufklärung entstand im Zeitalter des — in Deutschland allerdings zaghaften — Aufbruchs des Bürgertums die Bewegung der „Volksaufklärung“, eine „große Bürgerinitiative“, so der Bremer Literaturhistoriker Dr. Holger Böning. Böning wandelt bereits seit mehreren Jahren auf den Spuren der Volksaufklärer, im Rahmen eines Forschungsprojektes der Presseforschung an der Uni Bremen. Er schätzt, daß etwa 10.000 verschiedene Schriften im deutschsprachigen Raum seit dem 17.Jh. bis zum Beginn der bürgerlichen Revolution 1848 erschienen sind. Tausende davon haben er und sein Kollege Reinhart Siegert bereits gesichtet und bibliographiert. Ziel des Forschungsprojektes ist eine umfassende Bibliographie der belehrenden Traktate in Hausbüchern, Kalendern und Zeitschriften. Geplant sind vier Bände. Der erste ist soeben erschienen.

Die neue Philosophie, die Erkenntnis von der Vernunft als Ausgangspunkt menschlichen Handelns wollten die Gebildeten allen zugänglich machen. Laut Böning ging es bei dieser „säkularisierten Nächstenliebe“ um eine umfassende Durchsetzung bürgerlicher Tugenden: Fleiß, Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit. Ein plastisches Beispiel für die Belehrung des einfachen Volkes liefert das „Noth-und Hülfsbüchlein für Bauersleute“ von 1788. In dem Aufsatz „Wie bei einer ungeschickten, säuischen und unordentlichen Hausfrau immer alles kränkelt und elend ist“ sind aus pädagogischen Gründen alle ökonomischen nd hygienischen Sünden exemplarisch auf das Haupt der schlampigen Hausfrau Andres gehäuft. Nicht nur liegt sie zu lange im Bette und kocht den ganzen Tag „Caffe-Gesöff“, durch ihr „säuisches Verhalten“ bringt sie Mann, sieben Kinder und sich selbst ins Grab. Moral: Kaffee, warmes Brot und angefaulte Lebensmittel sind ungesund. Kleine Kinder, Hühner und Ziegen dürfen den Küchenboden nicht einkoten. Eine große Rolle bei der Verbreitung der Ideen der Volksaufklärung spielten die wenigen Intellektuellen auf dem Lande: Ärzte, Schulmeister und Pfarrer.

Böning hatte bei der mühsamen Spurensicherung so manches „Aha-Erlebnis“. Die Volksaufklärer machten sich nicht nur als Begründer der ersten Sparkassen und Versicherungen verdient, sie haben in ihrem aufklärerischen Eifer auch so manchen Bock geschossen, der den Forscher fatal an heutige Entwicklungshilfeprojekte erinnert. So machte sich einer der bedeutendsten deutschen Frühaufklärer, der Philosoph Christian Wolff, Gedanken über eine effektive Vermehrung von Getreide und entdeckte dabei die Einzelkornpflanzung mithilfe eines Pflanzbrettes. Gut für den Garten, für den Ackerbau jedoch völlig ungeeignet. Bis die Volksaufklärer das einsahen, lachte sich so manches Bäuerlein ob der gelehrten Herren ins Fäustchen. Bereits voll auf dem heutigen Stand der Landwirtschaft waren die Vernunftapostel mit ihrem Vorschlag, Vieh aus Rationalisierungsgründen nur noch im Stall zu füttern. Doch die Bauern ließen sich nicht überzeugen: So könne der Herrgott das nicht gemeint haben, daß die Kühe keine Sonne mehr sehen. Jeder Biobauer wird ihnen zustimmen — woran man sieht, daß der Streit um das, was vernünftig ist, bis heute andauert. asp

Zum Nachblättern: der von R.Siegert betreute Nachdruck des „Noth-und Hülfsbüchleins“ von 1788, Harenberg Kommunikation, Dortmund 1980