Hoffen auf Tokio — oder Karlsruhe?

■ In Bernau hat sich seit der Wende noch nicht ein größerer Industriebetrieb gemeldet, die Arbeitslosigkeit steigt — und in der Stadtkasse herrscht Ebbe/ Der Bürgermeister will den Verlockungen schneller Großprojekte vorsichtig begegnen

Bernau. In Tokio werden Wirtschaftsmanager dieser Tage einen Brief aus der dort unbekannten Mark Brandenburg, Germany, erhalten. Absender: die Stadtverwaltung von 1280 Bernau b. Berlin, Bürgermeister Dr. Ulrich Gerber. In Brüssel, Amsterdam, Hamburg, Zürich sind gleichlautende Schreiben bei den dortigen Wirtschaftsverbänden und Industriekammern vielleicht schon angekommen. Inhalt der Briefe: Die Vorzüge der brandenburgischen Kleinstadt, verbunden mit der Bitte, diese doch für Industrieansiedlungen zu nutzen.

Man soll nichts unversucht lassen. Nach dieser Devise hat das 37jährige Stadtoberhaupt von der SPD abends in die Tasten der Schreibmaschine gegriffen. Ein fast schon verzweifelter Versuch, Lohn und Brot für die 20.000 Einwohner zählende verschlafende Kreisstadt herbeizuschaffen. Wenn es stimmt, daß außergewöhnliche Situationen auch unorthodoxe Bezwinger verlangen, haben sie mit ihrem Bürgermeister eine nicht alltägliche Wahl getroffen. Der eher stille Familienvater Gerber, vor kurzem noch Verlagslektor in Ost-Berlin, hat nichts von einem ausgebufften Bürokraten oder einem leutseligen Berufspolitiker.

Zu Feiern gibt es auch nicht viel. Innerhalb Bernaus gut erhaltenen Stadtmauern und drum herum leben offiziell gezählt 987 Männer und 1.075 Frauen ohne Arbeit (Stand Oktober 1990). Eine geschönte Statistik: Denn zusätzlich stellen die BernauerInnen noch einen größeren Anteil an den insgesamt 25.563 KurzarbeiterInnen, die das Arbeitsamt Eberswalde registiert hat.

Auf die Frage, was er den Empfängern seines Werbeschreibens denn bieten könne, kommt Gerber nicht gerade ins Sprudeln. Einen S-Bahn-Anschluß nach Berlin, die Autobahn, freie Flächen, ein Flächennutzungsplan, der in der kommenden Woche fertig wird, antwortet er tapfer. Nur einmal, vor wenigen Wochen, versetzte ein Westberliner Anrufer die Stadtverwaltung kurz in freudige Aufregung. Er versprach »Japaner«, umweltfreundliche Softwareproduktion, etliche tausend Arbeitsplätze. Doch das Ganze entpuppte sich als windiger Möchtegern-Deal.

Kleines Dienstleistungsgewerbe alleine ist noch keine Basis für den Aufschwung. Kurvten früher sechs bis acht Taxen durch Bernaus Straßen, so konkurrieren jetzt eher stehend als rollend rund 50 Droschken um Fahrgäste. In einer Kleinstadt, in der der Bürgermeister mit 1.900 DM netto im Monat schon zu den besser Verdienenden zählt. Aber auch mit dem großen Dienstleistungsgewerbe ist es so eine Sache: Trotz katastrophaler Arbeitslosigkeit hat der SPD- Stadtchef gerade mit Vehemenz den geplanten Bau eines gigantischen »Euromarkt«-Einkaufszentrums auf der grünen Wiese am Stadtrand verhindert (die taz berichtete). Seine Argumente: Trotz der in Aussicht gestellten mehreren hundert Arbeitsplätze würde die Gewerbestruktur in der Stadt schwersten Schaden nehmen. Besonders gestört sind seitdem die Beziehungen zwischen dem SPD-geführten Bürgermeisteramt und der ebenfalls sozialdemokratisch geleiteten Kreisverwaltung Bernau. Zankapfel: Ein weiteres Großprojekt mit dem idyllischen Namen »Kurstadt Bernau-Waldfrieden«, für das am Rande der ehemaligen SED-Prominentensiedlung Wandlitz im Bernauer Forst am ersten Tag nach der Vereinigung flugs der Grundstein gelegt wurde. Für 3.000 Einwohner soll dabei die Waldsiedlung zu einem Kur- und Rehabilitationszentrum ausgebaut werden. Ein Schnellschuß in einer Größenordnung, der nach Gerbers Meinung der Struktur der umliegenden Kommunen nur schaden könne.

Dabei wird inzwischen mit harten Bandagen gefochten. Neben heftigen parteiinternem Streit hat sich Gerber inzwischen auch die erbitterte Feindschaft einiger örtlicher Mittelständler, der CDU und der aus dieser Richtung schießenden, wöchentlichen 'kleinen bernauer zeitung‘ eingehandelt. Das Blatt, das sich nach eigener Aussage als »Käseblatt im schönsten Sinne« versteht und seitenweise stramm konservative Polemiken in Richtung Rathaus und SPD abläßt, stellt sich über Gerber per Schlagzeile nur noch die Frage: »Totengräber oder Dorfschulze?«

Eine Sanierung des maroden Stadtzentrums könnte Arbeitsplätze schaffen, die riesige Wohnungsnot lindern und Gewerberäume bringen. Doch diese Mammutaufgabe soll im Rahmen eines ausgewiesenen Sanierungsgebietes plan- und maßvoll vonstatten gehen. Im Schneckentempo, wenn dabei das derzeitige Stadtsäckel die Geschwindigkeit bestimmt. Lächerliche 1,7 Millionen DM haben die Bernauer nun erst einmal als zweckgebundene Fördermittel bekommen. Amtsleiterin Jutta Siebenmorgen hat noch keinerlei Vorstellung, was sie für 1991 in ihre Bücher schreiben soll. Sicher rechnen kann sie derzeit nur mit 44 DM Hundesteuer je Bernauer Kläffer, ein wenig Grundsteuer und Verwaltungsgebühren. Damit sind im laufenden Halbjahr gerade eine Million DM städtische Eigeneinnahmen zusammengekommen. Wieviel Gewerbesteuer und Einkommensteueranteile 1991 endgültig fließen werden — und ob überhaupt — steht noch immer in den Sternen. Wäre es nicht so traurig, müßte man über Frau Siebenmorgens Einnahmespalten lachen: 4,2 Millionen DM stehen der gesamten Stadt Bernau für alle ihre Ausgaben und Verpflichtungen im 2.Halbjahr 1990 zur Verfügung. Soviel gibt eine schwäbische Kreisstadt locker für Blumenrabatten und Grünanlagen aus.

Wenn nun nicht auf wundersame Weise irgendwo in einem Konzern- Wolkenkratzer in Tokio oder Frankfurt oder Brüssel der Blick auf »1280 Bernau b. Berlin« fällt, dann bleibt dort nur der Blick in die frischgebackene Landeshauptstadt Potsdam. Als Vizepräsident des brandenburgischen Städtetages wird man den Bürgermeister des kleinen Bernau dort zumindest nicht ignorieren können. Solange von Potsdam keine Millionen fließen, können sich die BernauerInnen zumindest mit der Lektüre des Grundgesetzes die Zeit gratis vertreiben — oder die Fahrpläne ins ferne Karlsruhe zum Bundesverfassungsgericht studieren. Artikel 106 GG schreibt nämlich vor, daß die »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« für alle Bundesbürger gewährt sein muß... Thomas Kuppinger