Irgendwie fummelt man sich rein

■ Der erste Tag einer Schwesternschülerin auf der Krankenstation/ Theoretischer Anspruch und praktische Erfahrungen klaffen weit auseinander/ Für Aufklärung und Anleitung hat niemand Zeit/ Kontaktschwestern sind rar

Berlin. »Ach, unsre neue Schülerin!« Die Stationsschwester nickt kurz in Annas Richtung, dann wendet sie sich wieder den vielen bunten Röhrchen zu, die sie mit schwarz auf weiß beschrifteten Schildern beklebt. Sechs Uhr morgens, noch liegt der lange Korridor weitgehend im Dunkeln. Es ist Annas erster Einsatz auf einer Krankenpflegestation. Acht Wochen war sie darauf in der Schule vorbereitet worden, inklusive Erste-Hilfe-Kurs. Jetzt trägt sie zum ersten Mal selbst den hellblauen Kittel der Schülerinnenuniform. Vierzig kranke Menschen warten hier in ihren Betten liegend auf fremde Hilfe — und so ganz genau weiß sie noch nicht, wie sie die vor ihr liegenden Aufgaben alle bewältigen soll.

Eine Tür fällt leise ins Schloß, mittlerweile sind auch die übrigen Schwestern zum Dienst erschienen. Die Haare der Nachtschwester hängen strähnig aus dem am Vorabend noch so fest geknoteten Zopf, es war eine anstrengende Nacht. »Herr Müller hat die ganze Zeit randaliert«, erzählt sie, nur mit Mühe konnte sie verhindern, daß er aus dem Bett fällt. Vier Patienten habe sie bereits gewaschen, die anderen beiden habe sie nicht mehr geschafft. »Crebrale Dimenz, Arteriosklerose, Morbus Alzheimer«, schwirren die unverständlichen Begriffe durch den Raum, schon nach kurzer Zeit versteht Anna überhaupt nichts mehr. Fragen mag sie nicht, die sogenannte Übergabe von der Nacht- an die Frühschicht wird knapp gehalten. Sie erfährt, daß Frau Schulz noch immer keinen Stuhlgang hatte — »da müssen wir was unternehmen« — und daß das Fieber der nierenkranken Frau Meyer in der Nacht weiter gesunken ist. Ein umfassendes Bild ergibt sich aus all diesen Mosaikstückchen nicht, so sehr sich Anna auch bemüht. Dann klappt die Nachtschwester die Fieberkurven zu. Es ist 6 Uhr 30: Betten machen, Fieber messen, Medikamente verteilen — »Na, haben Sie gut geschlafen?« —, die Nacht ist endgültig vorbei.

Anna hatte sich das eigentlich ganz anders vorgestellt. Zwar war sie in der Schule auf den Krankenhausalltag vorbereitet worden, die Schulschwester hatte ihr und ihren MitschülerInnen beigebracht, wie man Betten macht, daß der Topf nicht »Topf« sondern »Steckbecken« heißt und daß man den Rücken nicht krümmt, sondern in die Knie geht, um das Kreuz zu schonen — doch mit der Praxis hat das alles scheinbar nichts zu tun. In die Knie gehen? Viel zu langsam! Wegen eines Flecks die Bettdecke beziehen? Nicht nötig! Ein Gespräch mit Herrn Müller über seine Alpträume? Keine Zeit!

Alles muß schnellgehen, um 7 Uhr 30 ist das Frühstück da, bis dahin muß »durchgebettet« sein. Schwester Inge wird ungeduldig, weil Anna noch immer mit Frau Schulz am Waschbecken steht. »Du darfst ihren Rücken nicht abklopfen, sie hatte vor zwei Wochen einen Herzinfarkt!« Das wußte Anna nicht, genausowenig, daß sie die Patientin mit Fichtennadelnervgeist nur abreiben darf. In der Schule hatte sie gelernt, daß das Abklopfen des Rückens den Schleim in den Bronchien löst — besonders wichtig bei meist bettlägerigen Menschen. Während des Frühstücks tun sich ihr weitere Abgründe auf. Beim »Essen eingeben«, wie es in der Schule immer so sachlich hieß, sollte man sich einen Stuhl als Sitzplatz heranziehen. Auf dem Bett sitzen ist grundsätzlich nicht erlaubt — heißt es in der Schule. Im Krankenzimmer aber weiß sich Anna gar nicht anders zu helfen: Frau Wegener kann sich aus eigener Kraft nicht mehr aufrichten, vom Stuhl aus ist Annas Arm bis zum Mund der Patientin viel zu kurz. Die Minuten vergehen, langsam läßt die herzkranke Frau das Weißbrot im zahnlosen Mund zergehen — in Annas Kopf herrscht ein einziges Durcheinander.

Aufklärung und Anleitung erhofft sie sich vom gemeinsamen Frühstück im Schwesternzimmer. Doch auch da ist wenig Zeit, die Schwestern beraten den Tagesablauf, planen notwendige Pflegemaßnahmen — »der Einlauf bei Frau Schulz!« —, und immer wieder springt eine Schwester auf, weil die Patientenglocke schrillt. »Du könntest ja die Waschschüsseln spülen und die Nachttische abwischen, wenn du das Frühstücksgeschirr abgespült hast«, wird sie von der Stationsschwester beauftragt. Daß sie solche Arbeiten machen muß, hätte Anna nicht gedacht. Und in den nächsten Wochen soll sich daran auch nicht viel ändern. Putzen, Fieber messen, Patienten waschen — das sind ihre vordringlichsten Aufgaben. Im Laufe der Zeit kennt sie zwar die Patienten, an welcher Krankheit sie leiden und was das für die Pflege bedeutet, erfährt sie jedoch nur nach und nach. Ist sie unsicher, wartet sie nicht mehr auf knappe Antworten, sondern verhält sich so, wie sie es für richtig hält. Und immer wieder muß sie Abstriche machen: Hat die Schulschwester noch gelehrt, daß bettlägrige Patienten mindestens zweistündlich gedreht werden müssen, bleiben sie auf der Station oft stundenlang unbeweglich auf dem Rücken liegen — schmerzhafte Druckstellen sind vorprogrammiert.

Sie beobachtet die ausgebildeten Schwestern beim Blutabnehmen und Spritzen geben — Tätigkeiten, die eigentlich den Ärzten vorbehalten sein sollten. Fragen über Fragen — und keine Antwort, weder in der Schule noch auf der Station. Hier schimpfen die Schwestern über die Praxisferne der Schulleitung, dort bemängeln die Ausbilder die unzureichende Pflege. Auch die sogenannte Kontaktschwester kann keine Brücke über diese Kluft schlagen — bei ihrem Antritt auf Station hat Anna sie das erste und letzte Mal gesehen. Im Spätdienst ist die Schülerin jetzt meist mit einer examinierten Schwester und vierzig Patienten allein — da bleibt keine Zeit für Erklärungen oder gar Anleitung. Nach sechs Wochen Stationsdienst hat sich Anna einigermaßen »eingefummelt«. Sie weiß, wo was liegt und wann was zu tun ist — inhaltlich hat sie jedoch kaum hinzugelernt. Dennoch heißt es Abschied nehmen — Anna wird auf die chirurgische Abteilung versetzt. »Ach, da ist ja unsere neue Schülerin!« maz

Schüler und Schülerinnen aller Berliner Krankenpflegeschulen wollen sich jetzt treffen, um gemeinsam über ihre Ausbildungsbedingungen zu sprechen und um »gegen ein noch schlechteres Gesundheitssystem vorzugehen«. Geladen sind alle KrankenpflegeschülerInnen aus Ost und West zum Treffen mit Frühstück und Diskussion am Sonntag, 11.11. 1990, 11 Uhr, im Blauen Salon, Gesundheitsladen im Mehringhof, Gneisenaustraße 2a, 1/61.