Gedenkstunde in der Rykestraße

Mit Kranzniederlegungen und Gedenkstunden haben die Juden in Deutschland gestern der Nazi-Pogrome am 9. November 1938 gedacht. Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, prangerte in Berlin mit scharfen Worten die Verweigerungshaltung der Öffentlichkeit gegenüber diesem Tag an, der ohne das Engagement der Juden »längst schon in völlige Vergessenheit versunken« wäre. Die Juden würden nicht zulassen, daß die Erinnerung an ihre Verfolgung vor 52 Jahren hinter die Freude der Deutschen über die Einheit trete. In einer Gedenkstunde, die erstmals in der Synagoge in der Ostberliner Rykestraße stattfand, erklärte er, die Trauer wegen der Pogrome habe »im Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit dieses Landes niemals den Platz« gefunden, der ihr gebühre. Die Ängstlichkeit auch der deutschen Intellektuellen und Kulturträger, die sie 1938 habe wegsehen lassen und die sich später in die Formel geflüchtet hätten, sie hätten nichts gewußt, habe dazu geführt, daß dieser Tag seither nie als »Tag der Scham und der Schande« begangen worden sei. Der Tübinger Rhetorikprofessor und Präsident der Akademie der Künste, Walter Jens, forderte, beim Gedenken nicht vor der riesenhaften Zahl von Millionen ermordeter Juden zu erstarren, sondern das Schicksal einzelner Individuen zu würdigen: »Ehre den Juden — jedem einzelnen«. Das »alte Deutschland« sei untergegangen in den Vernichtungslagern. Auch wenn es nach dem 9. November 1989 in anderer Gestalt wieder auferstehe: »Es wird als Staat ohne Juden nie mehr das alte sein«.

(Siehe auch Bericht Seite 5) afp/Foto: André Kaiser/G.A.F.F.