Malerei als ikonographische Provokation

Richard Hamilton in Winterthur  ■ Von Gerhard Mack

Als John F. Kennedy 1963 in Dallas erschossen wurde, flimmerte das Geschehen rund um den Globus über die Bildschirme. Im Wohnzimmer wurde hautnah miterlebt, was Tausende von Kilometern entfernt geschah. Heute schauen wir ganz selbstverständlich bei Bier und Chips den Gladbecker Geiselnehmern ins Auto und glauben die Angst der Opfer zu spüren. Im Zeitalter der medialen Vernetzung sind wir, die Zuschauer, als Voyeure mittendrin dabei. Das Draussen wird als Krimi frei ins Haus geliefert, der besser ist als die Wirklichkeit, weil er Spannung und Komfort zugleich bietet.

Solche Wahrnehmungs- und Erlebnismuster bewusst zu machen ist ein Ziel, das der 1922 in London geborene Richard Hamilton mit seinen Bildexperimenten verfolgt. Was schon so sehr Teil unseres Alltagsverhalten ist, daß wir es nicht mehr bemerken, wird zum Ansatzpunkt für verstörende Bildprozesse: Chicago project I und II (1969) zeigen einen beliebigen Fotoausschnitt einer Allee. Das Heranholen des Objekts mit dem Teleobjektiv suggeriert Nähe und Intimität, der Beobachter wird zum Voyer. Die festgehaltene Szene ist jedoch völlig ereignislos, die Bäume werfen in die Sonne Schatten, im Hintergrund sind verschwommene Parkbesucher zu sehen, viele Bänke der Allee bleiben leer. Die Banalität des Sujets tritt in Spannung zu seiner Dramatisierung. Auf diese Weise wird die Teleaufnahme als einsetzbares Gestaltungsmittel bewußt, das Realität nicht einfach wiedergibt, sondern formt. Hamilton verstärkt diesen Kunstcharakter des technischen Mediums noch, indem er Teile der Schwarz- weiß-Fotografie mit Ölfarbe koloriert, so daß derselbe Ausschnitt einmal in grün-orangen, dann in roten Farbwerten erscheint. Die für das Alltagsbewußtsein zunächst objektive Realitätsabbildung (des Fotos) ist am Ende als subjektive Verarbeitung erkennbar gemacht. In People (1965-66) wird dieser Effekt auf andere Weise erreicht: Eine Straßenszene mit Passanten ist durch ein blow-up bis zu dem Punkt vergrößert, an dem der Figurenumriß sich auflöst, die technisch neutrale Abbildung in ein abstraktes Bild umschlägt. Dessen ästhetische Qualität hebt Hamilton wiederum hervor, indem er einige Figurenarabesken mit Ölfarbe nachmalt.

Fotografische Mittel kennzeichnen Richard Hamiltons Reaktion auf die tägliche Bilderflut in Kino, Zeitschriften, Zeitungen, Werbung und Fernsehen seit der Mitte der fünfziger Jahre. Fotografien dienen als Vorlage, Malgrund oder Collagenmaterial; in Still-life (1965) wird als Reklamefoto eines Brown-Toasters so fein mit Ölfarbe retuschiert, daß der Betrachter erst nach längerem Hinsehen das sachfremde Vorgehen bemerkt. Das Verfahren der Retusche dient üblicherweise der „unsichtbaren“ Korrektur von Fehlern bei der Ablichtung des Objekts und der Entwicklung des Abzugs. Wenn sie hier mit der Farbe der Malerei ausgeführt ist, wird auf den Kunstcharakter des „objektiven“ Abbildungsmediums verwiesen; gleichzeitig ist darin ein Hinweis auf die Abbildungstradition der Malerei, etwa in den Gattungen des Porträts und Stillebens, zu sehen. Fotografie und Malerei berühren und reflektieren sich, sie geben Realität wieder, und sie verändern sie dabei.

Die Auseinandersetzug mit den Verfahren der klassischen Moderne ebenso wie mit der Ikonographie der aufblühenden Massenkultur ist denn auch das zentrale Thema, das Richard Hamilton in seinem mehr als vierzigjährigen Schaffen verfolgt. Diesen Eindruck gewinnt zumindest, wer die Werkausstellung besucht, die derzeit im Kunstmuseum Winterthur zu sehen ist. Erstmals seit der Retrospektive der Tate Gallery (1970) und der Wanderausstellung, die 1973/74 von New York ausging, wird hier ein größerer Werkkomplex Hamiltons der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Den Schwerpunkt bilden Arbeiten aus den letzten 15 Jahren; die Dreingabe wichtiger früherer Werke erleichtert es, der historischen Perspektive zu folgen, die mit dem Titel Exteriors Interiors Objects People vorgezeichnet ist. Überrascht doch diese offensichtlich traditionelle Programmatik — Landschaft, Interieur, Stilleben und Porträt sind die vier klassischen Bildgattungen — auf den ersten Blick bei einem Künstler, der zu den großen Initiatoren der Popart-Bewegung gehört und auch nach den bahnbrechenden Arbeiten, mit denen er sich in den fünfziger Jahren einen ersten Platz in der Kunstgeschichte unseres Jahrhunderts gesichert hat (man denke etwa an he oder Hommage à Chrysler Corp.), nie aufgehört hat, mit den bildnerischen Ausdrucksmitteln zu experimentieren. Ein zweiter Blick auf die gezeigten Arbeiten macht den Sinn und die Provokation des Ausstellungstitels jedoch augenfällig. So werden für das eigenwillige Porträt My Marilyn (1965) Kontaktabzüge, die Marilyn Monroe durchgestrichen und kommentiert hatte, in verschiedenen Formaten reproduziert, zu einer Bildgeschichte arrangiert und bemalt. Die unterschiedlichen Grade der Kombination von Fotografie und Malerei reichen von der direkten Übernahme bis zur freien Überarbeitung und zitieren aus dem Repertoire der klassischen Moderne das Ready-made, die Serialisierung, den Perspektivenpluralismus und die Monochromie. Mit den Mitteln der Malerei wird die scheinbare Objektivität des Mediums Fotografie aufgebrochen, das zunächst als die „direkte physische Spur real existierender Objekte auf einer zweidimensionalen Fläche“ Priorität genießt. So kolorierte Hamilton auf der Luftaufnahme einer Kulturlandschaft einige Feldstreifen und Waldstücke nach (Landscape, 1965/66) und holte mit Modellmasse ein Haus und einzelne Bäume zum dreidimensionalen Relief hervor.

Für die Spannungen, die entstehen können, wenn Hamilton visuelle Manipulationstechniken in den Medien mit den ikonographischen Traditionen der Malerei verschränkt, gibt es das große Diptychon The Citizen ein Beispiel aus jüngster Zeit. Mehrere Cibachrome-Fotos, die einen nordirischen Häftling in seiner kotverschmierten Zelle zeigen, werden ineinandermontiert und mit Ölfarbe übermalt; gleichzeitig stand Hamiltons Sohn für die Figur Modell. Das Resultat bündelt das aktuelle politische Thema (die Fotos bezeugen die „dirty protest“-Bewegung von 1980), die Reflexion über seine Vermittlung in den Medien, die Formeln der christlichen Märtyrerdarstellungen und Hamiltons abstrakte Farbmarkierungen; aus der aktuellen Fotografie wird eine moderne Allegorie.

Neben dem visuellen Kanon der politischen Realität ist es immer wieder der Darstellungsmodus der Werbung, an dem eine wechselseitige Überprüfung mit der malerischen Tradition stattfindet. Soft pink landscape (1971-72) zeigt Frauen in langen weißen Gewändern unter lichtdurchfluteten Waldbäumen. Im Vordergrund befindet sich eine säuberlich verpackte Rolle Toilettenpapier. Bildpassagen in photorealistischer Malweise sind durch Strichfelder in der Tradition Cézannes gebrochen, die Idyllenwelt aus dem 18.Jahrhundert, evoziert in der Drapierung der beiden jungfräulich reinen Frauen inmitten harmonischer Natur, findet ihre Irritation in der Rolle Toilettenpapier. Mit der Verschränkung der verschiedenen Kontexte läßt Hamilton die Assoziationsketten der Werbung erkennbar werden. Solche Versprechen von Glätte, Sauberkeit und Harmonie werden in einer Reihe weiterer Arbeiten mit Standardklischees aus der Werbewelt — zu sehen sind in Winterthur Serien von Sonnenuntergängen und Blumensträußen — angespielt und durch das Hinzufügen von Exkrementen brüskiert. Der lustvolle Widerstand gegen die schöne neue Warenwelt nimmt sich auf ihnen das Skatologische zum Zeichen.

Neben dem bildnerischen Werk, das auch einen noch unabgeschlossenen Zyklus zu Joyces Ulysses umfaßt, demonstrieren Designarbeiten für eine Computerfirma und Environments, die mit den Assoziationen von realem und politischem und Bildraum spielen, die ungebrochene Vielseitigkeit Hamiltons. Ein informativer Katalog rundet die gelungene Ausstellung ab, die bis zum 11.November zu sehen ist, bevor sie nach Hannover und Valencia weitergeht.