Weihwasser und Mercedes Benz

■ Ein Gespräch mit dem Leningrader Dichter Viktor Kriwulin

Der Leningrader Poet Viktor Kriwulin, 46, trommelt derzeit in Deutschland Gelder für sein Projekt „Internationaler Fonds pro Sankt Petersburg“ herbei. Vor einer Woche war er zu Gast im Bremer Institut für Osteuropaforschung.

Welche Probleme sollen mit Ihrem Fonds angegangen werden?

Viktor Kriwulin: Das wichtigste ist die Rettung Leningrads. Wenn die Stadt nicht in den nächsten fünf bis sechs Jahren teilweise konserviert wird, wird sie aufhören zu existieren. Die ökologische Lage ist fürchterlich. Fast alle Leningrader leiden an irgendwelchen Allergien, die Kinder haben Wachstumsstörungen. Aber das Schrecklichste ist das Absacken der Stadt, zwei bis drei Zentimenter jedes Jahr. Zweitens wollen wir ein fundamental neues Bildungssystem auf europäischem Niveau, aufgebaut auf klassischen Prinzipien, wozu die Erlernung von alten Sprachen gehört.

Die Gelder für Ihren Fonds sollen im Westen deponiert werden. Warum?

Falls sich irgendetwas in Rußland negativ verändert. Die Gelder sollen auch nur in Form von konkreten Hilfen für bestimmte Projekte eingesetzt werden. Wofür, das sollte eine internationale Kommission von Experten entscheiden.

Sie waren ein verfolgter Poet. Haben sie die Perestroika als Befreiung erlebt?

Für mich war der Anfang der Perestroika ein Schock. Was ich plötzlich im Fernsehen hörte, das schienen meine Worte zu sein, doch sie wurden mit einer fremden, metallenen Stimme ausgesprochen. Ich erschrak deshalb, weil man jetzt ganz offen das sagte, was wir auch, aber außerhalb jeglicher Massenmedien gesagt hatten. Unsere Gedanken erhielten plötzlich einen ganz anderen Sinn, als sie von einem Moderator ausgesprochen wurden, dem gleichen, der den Tod Breshnews verkündet hatte oder den Tod Andropows oder den Einfall von sowjetischen Truppen in Afganistan. Es hörte sich wie Verhöhnung an. Zwei Jahre lang konnte ich gar nichts schreiben oder nur ganz traurige, böse Gedichte. Erst im letzten Jahr fing ich wieder an, normal zu arbeiten. Ziemlich viel sogar. Und man druckt nun mehr von mir, als ich schreiben kann.

Das hat Ihnen die Perestroika gebracht?

Ich würde die Frage anders stellen: Was hat mir die Perestroika geraubt? Oberflächlich betrachtet sieht alles wunderbar aus. Aber die Perestroika hat das Milieu unserer nichtoffiziellen Kultur kaputtgemacht. Dieses Milieu war eine sehr wichtige Bedingung für innere Freiheit. Jetzt sind erstmal alle kulturellen Fragen in den Hintergrund getreten. Es interessieren sich nur noch wenige dafür, so ähnlich wie im Westen.

Und unsereins muß sich plötzlich um die gesellschaftliche Situation kümmern. Das, was ich früher gesagt hätte, sage ich heute nicht mehr, weil ich nicht weiß, welche künstlerischen oder politischen Folgen das hat, was ich sage.

Zweitens hat die Perestroika all das vergiftet, was wir gelebt haben. Das heißt, unsere nichtoffizielle Kultur unterschied sich von der im Westen gerade darin, daß sie auf geistige und spirituelle Werte konzentriert war, in einem gewissen Sinne sogar auf die Kultur des Mittelalters. Ich denke überhaupt, daß Kultur in einem höheren Sinn nichts für viele ist. Andererseits orientierten wir uns an der europäischen Avantgarde. Das war so eine Mischung, aber der Kern der russischen Kultur ist ja ein gesunder Konservatimus. Und sie ist tief religiös. Jetzt jedoch gehört die Religion sozusagen zum neuen Establishment.

Sie bedauern das?

Als die Kirche verfolgt wurde, als es gefährlich war, dorthin zu gehen, gab es in ihr lebendige Kräfte. Jetzt ist das Erscheinen eines Priesters Bestandteil irgendwelcher gesellschaftlicher Rituale geworden. Alles nimmt die Gestalt des Absurden an. In Moskau hat man sogar einen Mercedes Benz geweiht.

Hat auch Ihre Sprache gelitten?

Mein Thema war immer das, was die Sprache verschwieg. Wir haben häufig in den Dingen, die wir gelesen haben, nicht nur die Äußerung selbst gesehen, sondern auch andere Gedanken, den zweiten und dritten, der zwischen den Zeilen versteckt war. Der Leser im Westen, das hat mich verblüfft, liest einen Text eindeutig, er nimmt nur die direkte Bedeutung wahr. Die sowjetische Sprache war nicht so aufgebaut, daß sie etwas bestimmtes ausdrückte, sondern interessant war, was sie verschwieg.

Die Situation für die Kultur ist, trotz aller positiven Veränderungen, geradezu tödlich. Auch deshalb, weil die alten Strukturen zerstört werden, ohne daß es neue gibt.

Sie sind nicht der einzige, der die russische Sprache und Kultur retten will. Was meinen Sie damit?

Das wichtigste ist, daß sie unabhängig von der Regierung wird. Eine normale Entwicklung wird nur dann möglich sein, wenn es private Gönner gibt.

Die Gefahr der Kommerzialisierung sehen Sie nicht?

Wir haben so lange in einer Situation gelebt, wo man uns gesagt hat, was wir kaufen und denken sollen. Oft waren es Bürokraten, die nichts von Kunst verstanden, uns aber gesagt haben, was gut und schlecht ist. Wenn Rußland gerettet werden soll, und damit Europa, dann muß das endlich ein Ende haben.

Fragen und Übersetzung:

Birgit Ziegenhagen