Die toten Augen von Derrida

■ Eine dekonstruktive Ausstellung im Louvre

Wem in den Texten des Pariser Philosophen Jacques Derrida trotz mehrfacher mühseliger Versuche nicht mehr zu entdecken vergönnt war als ein semantisches Perpetuum mobile, einen auf viele Seiten ausgebreiteten acte gratuit des Denkens, das sich schlingernd von Wort zu Wort hangelt und um Bedeutung buhlt, kurz: Wer bei Derrida immer nur Werwiewas verstand — der gehe durch die gläserne Pyramide in die Höhle des Pariser Louvre und schaue sich die Ausstellung „Mémoires d'aveugle“ an. Dort hat der Poststrukturalist rund fünfzig Zeichnungen aus dem Fundus des Museums aufhängen lassen und mit mehr oder weniger erhellenden Kommentaren versehen.

„Es geht darum, den Blick auszustellen“, steht an der Wand, und deshalb hat Derrida Zeichnungen von Rembrandt, Coypel, David, de Volterra et al. ausgesucht, die entweder Blinde zeigen oder Verstümmelungen, Brechungen, Verschleierungen des Auges. Denn sehen hat etwas mit nicht sehen zu tun und zeichnen etwas mit blind sein: Genau wie der Blinde mit seinem Stock tastet sich die Feder des Zeichners durchs Dunkle des weißen Blattes, um eine unsichtbare Linie abzufahren.

Ein Gemälde von Joseph-Benoit Surée am Eingang der Ausstellung erzählt den Mythos der Entstehung der Zeichnung. Danach war die schöne Dibutade dazu verdammt, ihrem Geliebten stets nur den Rücken zudrehen zu können. Also — man kennt das von Platon — umfuhr sie den Schatten des Freundes an der Wand mit Kohle und fertigte so dessen Abbild an. Der Schatten als die Erinnerung des Augenblicks. „Als ob das Sehen sich beim Zeichnen verböte, als wenn man nur unter der Bedingung zeichnen kann, nicht zu sehen, als wenn die Zeichnung eine Liebeserklärung an die Unsichtbarkeit des anderen wäre“, folgert der dekonstruktive Cicerone und macht sich daran aufzuzeigen, daß die ursprüngliche Blindheit beim Zeichnen in allen Zeichnungen (zumindest in den ausgestellten) aufzuspüren sei, als eine Art „nächtlicher Spuk“.

An der Stirnseite des Saales hängen Selbstporträts von Henri Fantin Latours und Chardins. Achtlos würde man dran vorbeigehen, wenn nicht plötzlich alles sehr schwierig wäre: denn aus dem Selbstporträt mit Sonnenschutz Chardins wird für Derrida Das Selbstporträt eines Selbstporträtierers bei der Arbeit — und tatsächlich kann nicht gesagt werden, ob auf dem Blatt, das der Abgebildete gerade bemalt, wirklich sein eigenes blickendes Gesicht zu sehen ist: „Was zeigt er? Sich selbst oder den anderen? Sich selbst beim Zeichnen? Beim Zeichnen jemandes oder einer Sache? [...] Nur am Rand des Kunstwerks, weder innen noch außen, lesbar eher denn sichtbar: der Titel als einziger Anhaltspunkt.“ Ich zeichne oder sehe — niemals beides zugleich, und was ich zeichne, verbirgt das Gesehene. „Die Bewegung der Spur ist notwendig verborgen, sie entsteht als Verbergung ihrer selbst“, hatte es schon in der „Grammatologie“ geheißen.

Blinde Sänger gab es seit Homer, blinde Dichter und Denker jede Menge. Blinde Maler nicht. Aber jeder Maler, so Derrida, sei sich seines blinden Flecks bewußt gewesen und habe ihn thematisiert. So auf jener Rötelzeichnung eines Perseus, der der Medusa das Haupt abschlagen kann, ohne von ihrem Blick versteinert zu werden, indem er sie indirekt, über seinen glänzenden Helm, betrachtet: „Auch hier keine verborgene Intuition, sondern nur Winkel und die Schräge des Blicks.“

Doch soll dieser Text dem Leser nicht vorgaukeln, Derridas Kommentierungen läsen sich so leicht wie die Morgenzeitung. Ganz im Gegenteil. Wie ein Blinder tappt der Ausstellungsbesucher durch die Texte, liest, wundert sich und liest weiter bis ihm schwarz wird vor Augen. „Die Wahrheit seiner eigenen Augen als Schauender im doppelten Wortsinne ist das einzige, was sich überraschen läßt und nackt, ohne Attribute, ohne Brille, ohne Mütze, ohne Binde um den Kopf, in einem Spiegel“, so steht es unter einem „Narziß“ von Cigoli, und es ist bestimmt auch wahr. Aber die Sätze folgen aufeinander wie die Musik jener minimal music-Konzerte, wo man sich plötzlich einbildet, aus der ständigen Wiederholung des scheinbar Gleichen Melodien herauszuhören, aber nie sicher ist, ob alles nicht nur Einbildung war. Wer also der Auffassung ist, bei Derridas Texten handele es sich größtenteils um kryptische Wortkaskaden, in denen bisweilen kluger Sinn aufblitzt, der gehe durch die gläserne Pyramide in den Louvre hinein. Er wird nicht enttäuscht werden. Alexander Smoltczyk

Mémoires d'aveugle, l'autoportrait et autres ruines. Parti Pris: dessins du Louvre choisis par Jacques Derrida in der Napoléon-Halle des Pariser Louvre, noch bis zum 21. Januar 1991.