Galaktisches Gurgeln

Jazzfest und Total Music Meeting in Berlin: Flops, Mittelmaß und Überraschungen  ■ Von Carlo Ingelfinger

Eine einsame, desorientierte Helen Merrill, die sich aus einer Bar zwischen die Zuschauergebirge der Philharmonie verirrt zu haben scheint, wo sie mit brüchiger Stimme unter heftigem Protest des Publikums maniriert ihr Song-Programm durchhält, ein eleganter Max Roach, der in seinem Routineset für kurze zwei Minuten zeigt, was für Klänge und Rhythmen er mit Fußpedal, zwei Trommelstöcken und einem Hihat zaubern kann, das zwischen Blues und Free singende Altsax von Henry Threadgill über den zwei Tubas und zwei Gitarren seiner Gruppe, Lindsay Cooper im zum rotplüschigen Club mit tiefblauem Deckenhimmel renovierten „Quartier“, die sich in einen Kokon von Duetten zwische ihrem Fagott und ihren Echomaschinen einspinnt, Klappenflüstern von Flöten, Bläsersätze, Gongs, Trommelbatterien, Lautsprecherburgen, tränende Augen, dröhnende Trommelfelle (Trommelfelle!) — nach vier Tagen Musik zwischen 15 Uhr nachmittags und drei Uhr nachts an drei verschiedenen Spielorten bahnt man sich mühsam aus einer schier endlosen Folge von optischen und akustischen Überblendungen den Weg zu genauerer Erinnerung. Die fördert manche Enttäuschung und einige Überraschung zutage.

Jazzfest und das konkurrierende, ergänzende Total Music Meeting haben schon immer darauf gehalten, keine Kraut- und Rübenfestivals zu sein, sondern Konzeptionen anzubieten. Jost Gebers hat für das „Meeting“ ein einfaches, einleuchtendes Rezept: Biete Musikern aus der Free Music Szene an mehreren Abenden hintereinander die Gelegenheit, ihre Musik zu entwickeln. George Gruntz müht sich in der Tradition des Jazzfests um „Programmschienen“, die quer durch die Konzerte verlaufen und nur ZuhörerInnen mit überdurchschnittlichem Durchhaltevermögen Vergleiche ermöglichen, den Einzelkonzerten aber ziemlich beliebigen Charakter geben. Zudem scheinen die jeweiligen Schwerpunkte oft zufällig gewählt. Die Ausnahme diesmal: Die Programmschiene „Komposition“ — und das heißt, weitherzig ausgelegt, auch Big Band— ermöglichte tatsächlich den Blick auf überraschende Querverbindungen.

Zwei Legenden des Jazz' standen an Beginn und Ende des Jazzfests: Carla Bley und Dizzy Gillespie mit ihren Big Bands. Carla Bley gilt seit dem Album „Escalator over the hill“ als Ikone des Neuen Jazz. In Berlin bot sie überwiegend hohles Pathos. Nichts vom früheren Witz, der Fähigkeit zum ironischen Zitat, zur Selbstironie flackerte auf. Ihr Stück USA präsentierte einen oberflächlichen Rückblick auf die Jazzgeschichte mit vollen, scharfen Bläsersätzen, Anspielungen auf Swing und New Orleans, einem seichten Flügelsolo. Strange Arrangement nahm ihre Vorliebe für Kurt-Weill-Elemente auf, ohne die Versatzstücke zu verfremden. In der Mingus-Hommage Goodby Porkpie Hat schwelgte die Band in Moll-Harmonien, zelebrierte Blues und Gospel. Meisterbassist Steve Swallow, früher beweglich und innovativ, spielte — ernst, wie schmerzgekrümmt — konventionelle Soli und schlichten Rhythmus, der als Solist bevorzugte Trompeter Lew Soloff zeigte, was ein perfekter Studio- und Big-Band- Porfessional kann: alles.

Dizzy's „United Nations All Star Orchestra“ war mit lateinamerikanischer Essenz gewürzt: Airto de Morreira, Paquito de Rivera, Arturo Sandoval saßen in der Band. Dizzy und das Philharmonie-Publikum; das schien eine Love-Story zu werden: der launige Entertainer wurde umjubelt, ob er nun kleine Tänzchen aufführte, alberte oder Ansagen machte wie „Jazz wird auf jeden Fall die klassische Musik der Zukunft sein, und ich habe glücklicherweise lange genug gelebt, um selbst zum Klassiker zu werden“. Dizzy, dem Trompeter, nahm niemand übel, daß er nur in drei Stücken kurze Soli spielte: Das Alter forderte seinen Tribut. Dizzy, der Bandleader, hatte ein phantastisches Orchester mitgebracht, das die alten Latin-Bop-Standards Tin Tin Deo und Manteca neu glitzern ließ. Paquito de Rivera improvisierte auf Altsax und Klarinette souverän über eine Komposition, die wie ein ins Brasilianische übertragener Mozart klang, Arturo Sandoval interpretierte weich und maßvoll Body and Soul. Dizzy, der Routinier, schließlich brachte die Love-Story zu jähem Ende: Trotz zehnminütigen, flehenden Klatschens, Pfeifens, Trampelns gab er keine Zugabe. Thanks for the lesson, Dizzy.

McCoy Tyner scheint, ähnlich wie Carla Bley, auf dem Rückweg in die Jazzgeschichte. Sein orchestrales und ornamentales, harmonisch trickreiches Pianospiel birgt Einsprengsel von Tatum und Stride-Piano und hat das Feuer der Coltrane-Ära verloren. Tremolierende Blues-Akkorde prägten sein Gedenken an den kürzlich verstorbenen Art Blakey. Seine Big Band ist mindestens gleichweit entfernt von avantgardistischen Experimenten wie vom klassischen Swing. Aber die wirkungsvoll durch Tuba und Horn grundierte Band hielt mit eng geführten, über die Grenzen der traditionellen Sektionen hinaus eingesetzten Bläsern und schnellen Tempo- und Rhythmuswechseln lange hohe Erwartungen aufrecht. Schließlich allerdings imitierte sie überflüssigerweise Count Basie, inklusive kühlem Flöten- und heißem Tenorsaxophonsolo, bei dem Junior Cook leider nicht wie die Rhythm- and-Blues-Honker zu Boden ging. Das hätte noch gefehlt.

Was das Jazzfest an europäischen Orchestern und Komponisten brachte, bildete dazu einen erfrischenden Kontrast. Experimentierfreude und Risikobereitschaft lohnten die Neugierde. Der 34jährige Claude Barthelemy, für drei Jahre Leiter des französischen „L'Orchestre National de Jazz“, beschreibt selbst anschaulich sein Programm: „Ich möchte ein Orchester, das gleichzeitig flexibel und kraftvoll ist, einen 38-Tonnen-LKW, der sich wie ein Lamborghini fahren läßt. Ich spiele eine Mixtur aus Rockjazz und Hard Bop, Balladen, extrem brutale Stücke, Bizarres, das wie Kammmermusik oder afrikanische Musik geschrieben ist.“ Die Ingredienzen dieser Mixtur vertragen sich nicht immer, manches wirkt künstlich zusammengezwungen, manche Stimmungswechsel sind willkürlich, manches war aufregend, manches beliebig. Eine wichtige Klangfarbe im Ensemble und eine überraschend aggressive Solostimme war das teils über einen Synthi gespielte Akkordeon des jungen Jean Luis Matinier.

Geschlossener in der Form, reicher in der Solistik, nicht weniger anregend im Wechsel der Stimmung und voll kauziger Anspielungen klang die „Hommage à Douglas Adams“ des 30jährigen Düsseldorfer Komponisten Klaus König, die in der Philharmonie uraufgeführt wurde. Sie orientiert sich lose an Charakteren des Bestsellers „Per Anhalter durch die Galaxis“, dessen Erdling Arthur Dent König mit einer kleinen Bop-Melodie ins All schickt, wo er auf brodelndes Chaos, außerirdische Ruhe, harte Drinks, die zu galaktischem Gurgeln reizen und babylonische Fische trifft. Die Suite ist unabhängig von ihrer litarischen Vorlage lebendig. Der Komponist jagt seine Musiker — neben anderen exzellenten Solisten Jane Ira Bloom mit einem schmerzhaften Sopransax-Solo und Louis Sclavis auf Baritonsax und Baßklarinette — von behäbig schaukelnden Bigband-Klängen in Freejazz-Wirbel, von stillen und sanften Zwischenspielen in aus den Fugen geratenen erdige Blues- Abschnitte.

Jeweils zweimal, mit kleiner Gruppe und Orchester, zu hören waren Alex von Schlippenbach und Günter Sommer. In einem Konzert des „Total Music Meeting“ kämpfte der Pianist Schlippenbach zunächst kühl, dann immer energischer gegen seinen unwirschen Drummer Sunny Murray, dem ständig der Drumset wegrutschte, dann der Stock entglitt, der mit dem Ruf „Alex! Relax!“ (oder war das mein Hörfehler?) sein Recht auf ein Solo durchpaukte, das allerdings am erneut rutschenden Schlagzeug scheiterte, und schließlich die Bühne verließ. Saxophonist Gerd Dudek fand sich zwischen den Fronten, im spärlichen nächtlichen Publikum im „Quartier“ entschlummerte Schlippenbachs Gefährtin Aki Takase. Samt aller Situationskomik war das Gerangel auch musikalisch ergiebig.

In der Philharmonie, zur Eröffnung des Abschlußkonzertes drei Tage später, führte Schlippenbach mit dem „Berlin Contemporary Jazz Orchestra“ (Aki Takase am Flügel) eigene und Kompositionen von Kenny Wheeler auf. Wheelers „Ana“ beginnt mit feierlich-getragenem Bläsersatz, das Thema entfaltet sich langsam, wird später in doppeltem Tempo gespielt und zieht sich durch alle vier Abschnitte des Werks. Die Soli der Bläser kulminieren in einem wilden Bariton-Ausbruch Ernst Ludwig Petrowskys. Wie Wheelers Komposition sind auch die beiden Stücke Schlippenbachs von europäischer Musiktradition bestimmt. In Wasserstoff 2 führt der Dirigent die Band zu gluckerndem Auf und Ab, Ausdehnen und Zusammenziehen, zum Kreisen um ein imgainäres Zentrum. Das Eröffnungsstück des Konzerts war ein Vehikel für ein eruptives Baßklarinettensolo von Willem Breuker.

Dem spröden, ernsthaften Grundton dieses Auftritts entgegengesetzt war der teils nachdenklich-melancholische, teils übersprudelnd-karikierende Witz des „Jazzorchesters der DDR“ unter der Leitung des Schlagzeugers und Schalmeien-Fans Günter „Baby“ Sommer. Er gab eine faszinierende musikalische „Lehrstunde für Staatsbürgerkunde“. Sommer hat zwölf Schalmeien, die Fanfaren der Arbeiterklasse und ihrer Musikzüge, in der ganzen DDR gesammelt und setzt sie jetzt mit intellektuellem Witz und Spielwitz zur musikalischen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ein. Grundlage ist traditionelles Material aus dem Kanon der Arbeiterbewegung: Der Choral Unsterbliche Opfer, das Lied von den Moorsoldaten, Wenn wir schreiten Seit an Seit, Hymmnen aus den Notenheften der Schalmeienzüge. Sommers Jazzorchester „befreit“ dieses Material von der lastenden Vergangenheit durch ironische Reflexion des früheren Sinnzusammenhangs. Unsterbliche Opfer: Ein Pfeifen, Säuseln, Rascheln und Schlagen unzähliger Rhythmusinstrumente, bevor die Schalmeien den Choral anstimmen und als Untergrund eines Posaunensolos von Frieder Bergner immer lauter werden. An die Moorsoldaten wird zunächst mit Respekt erinnert: Klagende Saxophonschreie über der traurigen Melodie. Den kämpferischen Mittelteil gibt Sommer jedoch durch Überakzenztuierung der Lächerlichkeit preis. Ein Heimatstück aus dem Elbtal internationalisiert er rhythmisch auf den südamerikanischen Subkontinent, Hymnus 3 wird eine Freejazz- Hymmne, Wenn wir schreiten Seit an Seit traktiert Pianist Ulrich Gumpert mit Würde und Wut. Sie alle tragen die DDR noch einmal musikalisch zu Grabe: Mit bitteren Erinnerungen und überschäumender Freude.

Die zentralen Jazzer der Ex-DDR sitzen im Zentralquartett: Sommer, Gumpert, Petrowsky und der Posaunist Conrad Bauer. Ihr sichtlich unbändiger Spaß am Zusammenspiel, ihr gemeinsamer Background, die Sympathie füreinander und ihre nie nachlassende Neugier auf neue Klänge läßt sie Freejazz und Bop, Blues und Zirkusmusik gemeinsam immer neu zu den rührendsten Duetten, zu majestätischen Klangkathedralen, zu musikalischen Scherzen formen. Conrad Bauer bläst weich, mehrstimmig, singt durch die Posaune dazu, Petrowsky fällt rauh ein, Gumpert markiert einen harten Blues, die Bläser riffen hinter ihm, bis er in ein langes Solo à la Monk verfällt. Basis bildet die freie Rhythmusarbeit des Kobolds Sommer: durchsichtig genau, mit Stöcken, Fingern, Besen auf Drumset und allen nur denkbaren Materialien, von Schreien und Sprüngen unterbrochen. Wie beim „Jazzorchester“ war die Fan-Familie im „Delphi“ gerührt und begeistert.

Eine böse, harte Zone, in der es nur ums Überleben geht: Solche Assoziationen legt wenigstens die Musik nahe, die der bei Miles Davis und Jack deJohnette geschulte 29jährige Gary Thomas mit seinem Quartett macht. Der dräuende, zugleich maschinenartig marschierende und dschungelartig wuchernde Rhythmus von Schlagzeuger Adrien Green wird unterstützt vom Baß, verloren dazwischen die kurzen Phrasen der Pianistin Junko Onishi — dieser Rhythmus ängstigt. Nur einer hat alles unter Kontrolle; schwarz, hochgewachsen, schön, arrogant und kühl: Gary Thoams in schwarzgrauen Designerklamotten, mit angeschweißten langen Locken am kurzen Afrohaarschnitt. Er bläst ein trockenes, hartes Saxophon, völlig vibratolos. Seine lapidaren Linien erinnern manchmal an die von Miles in den Bands der siebziger Jahre, addieren sich zu Ketten von schnörkellos fest, entschieden geblasenen kurzen Läufen: Keine Illusionen, Mann, nackte Facts. Auch ein ruhigeres Stück auf der ebenfalls völlig ohne Vibrato gespielten Flöte läßt keinen Romantizismus aufkommen, es sei denn den einer eisigen menschenleeren morgendlichen Großstadt. Musik wie ein hart geschnittener Film. Nur eins hat Gary Thomas nicht unter Kontrolle: den Sound. Der Laptop-Synthi, über den Baß und Sax teilweise gespielt werden, macht der Soundcrew Probleme. Thomas wird sauer, das Publikum auch. Trotzdem ein starker Auftritt.

Am vorletzten Freitag morgen zwischen zwei und drei Uhr war ich wunschlos glücklich. Der Grund: Es spielten Louis Sclavis, Armand Angster und Jacques di Donato, das „Trio des Clarinettes“, mit einem Arsenal von Klarinetten aller Tonlagen. Sie spielen hinreißend. Wärme und Fröhlichkeit leben in ihrer Musik, in ihren fliegenden Wechseln zwischen Komposition und Improvisation, ihren Anleihen bei Klezmer- und Kirchenmusik, ihren sich ständig erneuernden Läufen, bei denen die Führung unmerklich vom einen auf den anderen übergeht, während der dritte Rhythmusfiguren bläst. Zischendurch schreien und klatschen sie, schauspielern ein bißchen, zeigen ihren Spaß an Spiel und Improvisation. Natürlich fehlt keinem von ihnen etwas aus der Trickkiste der Instrumentaktechnik. Sie überblasen dermaßen schrill, daß das Ohr noch Minuten später schmerzhaft vibriert, sie bellen durch die Mundstücke, verschleifen Sirenenklänge, singen Obertöne. Alles ist meisterhaft bedacht, präzise in unorthodoxe Kompositionen voller Überraschungen und freundschaftliche Solo-Features organisch eingebettet. Ach, einfach eine wunderschöne Musik.

Das ist etwas, das im Gedächtnis haften bleibt von diesen vier Tagen. Aber was noch?