Der Bluff der EG im Milliarden-Poker

Europäer werden sich Zugeständnisse im Agrarbereich teuer bezahlen lassen  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Ein Raunen geht durch die Menge. Gerade hat das argentinische Pokerface ein Royal Flash auf den Spieltisch geblättert. Nun ist EG-Kartenhai Andrießen am Zug. Er lächelt spöttisch. Blufft er? Tausende Augen verfolgen gebannt jede seiner Bewegungen. Das ist die Gelegenheit: Niemand in der weltgrößten Pokerrunde wird gewahr, wie US-Pokerlady Hills ein weiteres As aus dem Ärmel zaubert. Wird sie die Gatt-Milliarden abzocken, die auf dem Spieltisch gestapelt sind? Der Ausgang steht frühestens in vier Wochen fest, wenn die Spieler aus über 100 Ländern Brüssel wieder verlassen haben. Vier Tage lang werden 6.000 Delegierte und fast ebensoviele Journalisten Anfang Dezember in dem Konferenzzentrum der inoffiziellen Hauptstadt Europas mit den Pokerstars fiebern.

An 15 verschiedenen Tischen gleichzeitig werden unerhörte Einsätze verloren und gewonnen. Tausende von Arbeitsplätzen in der Textilindustrie und weltweite Agrarsubventionen sind Pokermasse beim Spiel um die Öffnung wichtiger Märkte im Dienstleistungsbereich oder im Patentschutz. Die Erhöhung von Einkommen in einem Land kann das Aus für viele Betriebe in einem anderen bedeuten. Harte Nerven sind deshalb gefragt. Wie gut sie zu bluffen verstehen, demonstrierten die EG-Spieler in den letzten Wochen. Angeblich war der bereits freie Welthandel in Gefahr, weil sich die Zwölf nicht auf eine gemeinsames Angebot für den Abbau der Agrarsubventionen einigen konnten. Siebenmal trafen sich die EG-Agrarminister, weil ihnen das Angebot der EG-Kommission, die Subventionen im Zeitraum von zehn Jahren um 30 Prozent abzubauen, zu weit ging.

Als die Minister Dienstag nacht schließlich einem Kompromißvorschlag zustimmten, konnten sich die EG-Zocker gratulieren. Denn zum einen hatten sie das Angebot gerade noch rechtzeitig verabschiedet, bevor die anderen Teilnehmer an der Gatt-Runde ernsthaft verärgert wurden. Außerdem glauben sie, damit das EG-Landvolk ruhiggestellt zu haben. Vor allem aber haben sie ihren Gegenspielern deutlich gemacht, daß weitere Zugeständnisse seitens der EG nur durch einen tiefen Griff in die Tasche zu gewinnen sind. Die Reaktion war entsprechend: Die Gespräche seien zwecklos, warnte der Australier Neal Belwett, solange die EG ihre Karten nicht auf den Tisch lege. Der Vertreter der Cairns-Gruppe, einem Zusammenschluß von 14 agrarexportierenden Länder, kündigte an, man werde nun den Spielraum ausloten und Ende nächster Woche über das weitere Vorgehen entscheiden.

Wichtigster Streitpunkt im Welthandelspoker sind nach wie vor die Agrarsubventionen. Der Vorschlag der EG sieht vor, die internen und die Exportsubventionen bis 1996 um 30 Prozent zu kürzen gegenüber dem Stand von 1986. Weil dies aber einem Einkommensverlust für die Bauern um 34 Prozent gleichkäme, haben die EG-Agrarminister auf Drängen ihrer Kollegen aus Bonn und Paris beschlossen, Ausgleichsmaßnahmen bereitzustellen. Um den „Landwirten weiterhin eine lebenswerte Zukunft bieten“ zu können, sollen außerdem „produktionsneutrale Strukturhilfen“ beispielsweise für die Almbauern gegeben werden. Auch „umweltentlastende und landschaftspflegerische Maßnahmen“ sollen gefördert werden. Dazu zählen „Ausgleichszahlungen für benachteiligte Gebiete“ und Prämien für extensive Tierhaltung.

Der am heftigsten umkämpfte Punkt im EG-Angebot ist allerdings die sogenannte „Gemeinschaftspräferenz“. Bislang schützte die Gemeinschaft ihre landwirtschaftlichen Erzeuger vor billigen Importen durch eine künstliche Erhöhung der Preise für Einfuhren. Die EG- Kommission hatte vorgeschlagen, diesen „Schwellenpreis“ ebenfalls um 30 Prozent zu reduzieren. Der französische Agrarminister Louis Mermaz setzte jedoch die Koppelung des externen an den internen Preis durch, was einem langsameren Abbau des Außenschutzes gleich kommt. Rückendeckung erhält er von den europäischen Bauern, die am Dienstag vor der Genfer Gatt- Zentrale gegen die Maximalforderung der agrarexportierenden Länder demonstrieren wollen. Viel wird es nicht helfen, denn für die Weltpoker-Asse ist das Bauernopfer schon längst ausgemachte Sache.