„Der Startschuß ist einfach noch nicht gefallen“

In Dresden und Umgebung warten die Sachsen noch auf den versprochenen Aufschwung/ Investoren aus Westdeutschland halten sich nach wie vor zurück/ Der sächsische Treuhandableger versinkt in Arbeit und hat zu wenige qualifizierte Leute  ■ Aus Dresden Erwin Single

„Schauen Sie doch aus dem Fenster, und Sie wissen, wie die Stimmung hier ist.“ Ein Blick aus dem siebten Stock des ganz im Stil der sozialistischen Moderne errichteten Büroklotzes in der Budapester Straße genügt: die Luft ist schlecht, es schüttet in Strömen, das gerühmte „Elb-Florenz“ erscheint in einem tristen Licht. Was aber der Mitarbeiter der Treuhand, die sich hier in engen Räumlichkeiten eingerichtet hat, mit seinem zweideutigen Hinweis gemeint hat, ist nicht das lausige Wetter, sondern vielmehr die wirtschaftliche Lage. Dabei ist Dresden beileibe keine Krisenregion. Doch auch hier warten rund eine Halbe Million Einwohner auf den verprochenen Aufschwung — bislang vergeblich.

Beim Betreten der Treuhand- Gänge will man das zuerst nicht glauben. Hier geht es mehr als hektisch zu. Drei bayerische Versicherungsvertreter suchen nach Räumlichkeiten oder einem Platz, wo sie ihre Bürocontainer aufstellen können. Sie müssen genauso warten wie die Herren von Coca-Cola, der Professor der Technischen Universität oder der Stuttgarter Handwerker, der gerne „etwas kaufen möchte“, aber nicht sagt, was. Zur Treuhand werden alle verwiesen, die in der Stadt etwas wollen. Die MitarbeiterInnen stöhnen, kommen bei der Fülle der Aufgaben, dem Wust an Informationen und den immensen Papierbergen nicht mehr nach. Jetzt, nachdem Anfang Oktober erstmals 200 Betriebe, vom Kino bis zum Kombinatsteil, öffentlich ausgeschrieben wurden und die ersten Angebote vorliegen, soll das Personal von 34 auf 61 Beschäftigte aufgestockt werden — vor allem mit qualifizierten Leuten, die in der Lage sind, die Betriebe so schnell wie möglich zu verkaufen.

Doch an der Bürokratie liegt es nicht allein, daß die Privatisierung der Treuhand-Masse nicht zügiger vorankommt. Potente Investoren lassen noch immer auf sich warten; nicht wenigen der 700 Treuhand- Betrieben droht die Stillegung.

Davon betroffen ist auch der frühere Vorzeigebetrieb „Robotron“. In einem Teil des Komplexes hat sich jetzt das baden-württembergische „Verbindungsbüro für wirtschaftlich-technische Zusammenarbeit“ eingerichtet, mit dem die Stuttgarter Landesregierung ihrem Partnerland Sachsen beim wirtschaftlichen Aufbau unter die Arme greift. Über 6.000 Besucher, „vom Arzneimittelhändler bis zum Zwingerbaumeister“, hat der Leiter Walter Rogg seit Februar gezählt, die sich dort auf der Suche nach Kontakten die Klinke in die Hand gaben — viele nur aus Neugier oder um sich Tips zu holen, wie er einräumt. Unter den ernsthaften Interessenten sind fast ausnahmslos Existenzgründer, kleine Selbständige und Firmen im Handwerk, Handel, Gaststätten und Fremdenverkehr; in diesem Bereich wurden im ersten Halbjahr rund 100.000 Gewerbebetriebe in der damaligen DDR angemeldet, im August allein 8.000 in Sachsen. Doch in der Industrie sieht es, die „Schlüsselbereiche“ Bauwirtschaft und Maschinenbau einmal ausgenommen, nicht so rosig aus. Gerade mittelständische Unternehmen, auf die man in Dresden besonders setzt, haben bei noch Rogg selten angeklopft. Einen genauen Überblick über das konkrete Engagement westdeutscher Unternehmen gibt es aber bislang nicht, da keine Meldepflicht für Investitionen besteht und die Firmen sich aus Konkurrenzgründen über ihre Absichten ausschweigen; auch Rogg fehlt eine entsprechende Erfolgskontrolle.

Warten auf den schwäbischen Mittelstand

Die Zurückhaltung mittelständischer Unternehmen, so erklärt Rogg, liege meist daran, daß die Firmen trotz Staatshaftung bei der Übernahme von Treuhand-Firmen langwierigen rechtlichen Auseinandersetzungen bei Altlasten oder ungeklärten Eigentumsfragen scheuten und sich statt dessen lieber neu ansiedeln wollten. Dennoch ist Rogg optimisitisch: nach dem „tiefen Tal bis zum Herbst“ gehe es langsam aufwärts. 60 Firmen, darunter auch aus dem produzierenden Gewerbe, hätten ihr Interesse für großflächige Ansiedlungen auf dem von der Stadt neu ausgewiesenen Gewerbegebiet bekundet. Der Pferdefuß dabei: die Kommune habe das Gelände zuvor nicht aufgekauft und damit „dreistellige Millionenbeträge“ verschenkt, die sie für die Förderung der wirtschaftsnahen Infrastruktur dringend hätte brauchen können.

Die Dresdner IG Metall-Funktionäre malen dagegen ein düsteres Bild. Ohne die Landwirtschaft einzubeziehen, wurden im September in Dresden samt Umland über 38.000 Arbeitslose registriert; hinzu kämen eine viertel Million Kurzarbeiter, die Hälfte davon ganz ohne Arbeit. Ob die Stahlindustrie in Riesa, der Braunkohletagebau in der Lausitz, die Textilproduktion im ostsächsischen Raum oder der Landmaschinenbau in Neustadt — alles scheint nicht mehr zu retten und damit die Perspektive für ganze Regionen auf Jahrzehnte verloren zu sein. Der Sturzflug in die Wirtschafts- und Währungsunion hat die Absatzmärkte zusammenkrachen lassen; die politischen Preise für die Produkte waren ohnehin nach betriebswirtschaftlichen Kriterien nicht zu halten. Der Wert der Betriebe, abhängig unter anderem von Produktpalette, Marktchancen und Auftragslage, tendiert in der konkursträchtigen Situation daher gegen null. Die Gewerkschafter sind davon überzeugt, daß westliche Investoren noch warten, bis die Konkursmasse billig abgegeben wird. Während sich Bonn in Appellen ergoß, habe sich die Investitionsbereitschaft in Grenzen gehalten.

Die Hoffnung ruht nun auf strukturpolitische Initiativen nicht zuletzt der neuen sächsischen Landesregierung. Drei Milliarden an Fördermitteln für die wirtschaftsnahe Infrastruktur erhalten die fünf neuen Bundesländer. Haben das Land und die Kommunen erst einmal Geld zum Ausbau von Straßen, der Sanierung von Altlasten und der Renovierung der Altbausubstanz, glaubt Rogg, werde die Bautätigkeit durch die öffentliche Hand den Konjunkturmotor spielen. Auch bei den Gewerkschaften setzt man auf den Infrastrukturausbau als „Stimulierung“, möchte die Fördermittel aber auch gezielt dort eingesetzt wissen, wo die Arbeitslosigkeit am größten ist, beispielsweise für Beschäftigungsgesellschaften oder Qualifizierungsmaßnahmen. „Der Startschuß ist einfach noch nicht gefallen“, zieht Rogg Bilanz, „wir sind jetzt ein Land, da kann man sich hier doch kein Sizilien leisten“. Wie zwischen Hoffnung und Resignation die verunsicherten Dresdener auf ein Signal warten, zeigt ein anderes Beispiel: In einer nächtlichen Plakatieraktion hatten Unbekannte die Stadt mit dem Slogan „Im November bebt die Erde“ übersät. Alles rätselte, was damit wohl gemeint sei; die PDS und die Stasi wurden gleichermaßen als Urheber verdächtigt — bis sich herausstellte, daß mit der aufsehenerregenden Aktion eine Diskothek ihre Eröffnung ankündigte.