Nato-Geheimdienst höchst lebendig

■ Treffen Ende Oktober in Brüssel/ Belgische Regierung angeblich nicht informiert/ Cossiga als Zeuge

Brüssel/Rom (afp/taz) — Stück für Stück „enttarnt“ wird die Geheimdienstorganisation, die die Nato zur Hochzeit des Kalten Krieges wie ein unsichtbares Spinnennetz über ihre Mitgliedsstaaten gelegt hat. Nach dem italienischen Premierminister Andreotti und dem griechischen Ex- Regierungschef Papandreou entschloß sich am Donnerstag auch der belgische Verteidigungsminister Coeme, die Existenz einer derartigen Organisation parallel zum nationalen Geheimdienst in Belgien zuzugeben. Dabei deckte der Verteidigungsminister auch auf, wie lebendig die angeblich längst aufgelöste Geheimorganisation ist: Noch am Ende des vergangenen Monats hatte sie ein Treffen in Brüssel. Coeme selbst will jedoch erst jetzt von dieser internationalen Organisation erfahren haben, deren Vorsitz zur Zeit die belgische Seite innehabe. Hermetisch dagegen das Oberkommando der Alliierten Streitkräfte in Europa (SHAPE): Es verweigert jede Aussage über eine Beteiligung der Nato an Aufbau und Koordination des Netzes.

Unterdessen will Andreotti, der die „Enttarnungswelle“ vor einem Monat in Rom in Gang gebracht hatte, dem italienischen parlamentarischen Ausschuß für Geheimdienst und innere Sicherheit eine Liste mit 622 Namen von Mitgliedern der armeeähnlichen Organisation namens „Gladio“ (Schwert) vorlegen. Nach Andreotti war Gladios Gründung in einem geheimen Zusatzabkommen bei Italiens Nato-Beitritt festgelegt worden, um mögliche Angriffe von kommunistischer Seite abzuwehren. Die nach Andreottis Angaben finanziell von der CIA unterstützte Organisation sei in Italien jedoch nie in terroristische Attentate oder Putschversuche verwickelt gewesen. Angesichts der Veränderungen in Osteuropa will die italienische Regierung nun bei der Nato anfragen, ob die Organisation Gladio nicht überholt sei. Die kommunistische Opposition Italiens verlangt, daß sämtliche Mitarbeiter von Gladio enttarnt werden. Aus ihrem linken Flügel ertönte bereits der Ruf nach einem Rücktritt Andreottis. Unterdessen will der mit der Ermittlung des Falles beauftragte venezianische Richter, Casson, den jetzigen italienischen Präsidenten und früheren Innenminister Cossiga in den Zeugenstand rufen.

Ein belgischer Regierungsvertreter erklärte, derartige Organisationen habe es in den 50er Jahren in allen 16 Nato-Staaten gegeben. Dagegen nennt ein von der italienischen Presse veröffentlichtes Regierungsdokument im einzelnen Großbritannien, Frankreich, die Niederlande, Belgien und „möglicherweise“ Dänemark und Norwegen. Unmittelbar nach Kriegsende habe Frankreich ähnliche „Strukturen“ auch in den unter seiner Kontrolle stehenden deutschen und österreichischen Gebieten aufgebaut.

dora