Alles geht, aber die deutsche Frage besteht

■ Europäer aus West und Ost im Diskurs über „Aufbruch und Neuordnung Europas"

Etliche aus der europäischen Herrenrunde mit Dame (der Bremer Sozialwissenschaftlerin Eva Senghaas-Knobloch), die sich am Wochenende in der Landeszentrale für Politische Bildung zu west-östlichem Symposion trafen, hatten das vor fast zwei Jahren schon mal getan, unter ihnen der Soziologe Zlatomir Popovic aus Belgrad, der jüdische Philosoph Michaly Vaida aus Budapest, jetzt Debrecin, wie der Botschafter a.D. Luigi Vittorio Graf Ferraris aus Rom.

Als ich im Januar 1989 unvorbereitet in den edelholz-bremensischen Saal am Osterdeichgestolpert war, habe ich gestaunt über die Art von Diskurs, der hier gepflogen wurde. Scharfsinnig- kenntnisreiche , so offene wie vertraut-ziselierte Kontroversen zwischen den Mittelostlern, Herren mit Rück- und Überschau über die Geistesgeschichte des Abendlandes rauf und runter, Vajda mit einem gestisch bereicherten Erzähltalent aus 1000-undeiner Philosophie, Stegreifrepliken, höflich aber klar, kurzum: es wehte der Hauch von einem Europa, das lange versank und der vor allem von den Gästen aus dem Osten kam.

Damals war es um die Idee von „Mitteleuropa“ gegangen, die der tscheschische Schriftsteller Milan Kundera 1983 zum Diskussionsgegenstand gemacht hatte. Unter den Intellektuellen „Mitteleuropas“, das wir nach 1945 „Osteuropa nennen, ist er es bis heute geblieben : Gab es zwischen den Ländern des alten K.u.K.- Reiches, zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR eine Gemeinsames, politisch oder kulturell, auf das man neue Vorstellungen für einen europäischen Raum gründen konnte?

Im Jahre 1989 fiel der eiserne Vorhang zwischen _“West“- und „Ost“europa. Dadurch ist „Deutschland, ein westliches Land, ein Stück nach Osten gerutscht,“ formulierte der Leiter der Forschungsstelle Osteuropa, Wolfgang Eichwede, „die osteuropäischen Länder und die Sowjetunion sind ein Stück nach Westen gerutscht.“

„Ist Mitteleuropa noch aktuell?“ nahm Michaly Vajda das Thema vom Januar 1989 wieder auf und kennzeichnete die Mitteleuropaidee als einen „schönen Traum“, der Anfang der 80er Jahre aufkam, als mit Solidarnosc in Polen klar wurde, daß die russische Herrschaft nicht ewig dauern werde. Für die osteuropäischen Intellektuellen habe der Traum den Sinn gehabt, zu sagen: wir wollen nicht mehr Osteuropa sein, und wir hoffen, daß das im Westen offene Ohren findet.

Je unklarer der Traum gewesen sei, desto besser. Heute aber, gelte es, nicht mehr mit Träumen Entwicklungen vorzubereiten, sondern konkrete Entscheidungen zu treffen und die bewußt offengelassenen Fragen zu beantworten: Was ist mit Deutschland, von dem damals nur klar gewesen sei: DDR-Deutschland gehört nicht dazu. Und: in welcher Form soll sich wer zur Europäischen Gemeinschaft verhalten?

Vajdas Diagnose des Ist-Zustandes: Polen, Ungarn, Tschechoslovakei sind trotz ihrer Wünsche nach Demokratie und nach Europa beides noch noch nicht. Sein Vorschlag: „Entweder Mitteleuropa bleibt eine Peripherie mit Bestrebungen, europäisch zu werden oder es wird eine europäische Subregion mit Hilfe von den Deutschen.“ Vaida hat genug Vertrauen in die deutsche Demokratie, um sich einen mittel- osteuropäischen Staatenbund mit ihr vorzustellen. Obwohl als Budapester Jude nicht eben von vornherein ein Freund der Deutschen habe er doch gelernt: die deutsche Geschichte unter dem Eindruck eines unbewältigten NS-Traumas anzugehen wie Habermas, verstelle den Blick.

Nicht zuletzt die regen Widersprüche bewiesen: die deutsche Frage ist mit der deuschen Einheit nicht aus der Welt. Der verstärkte wirtschaftlich-politische Macht Deutschland neben dem vom Sozialismus befreiten mitteleuropäischen Armutsgürtel ist Ursache für ein Bündel von Hoffnungen und Befürchtungen.

Hoffnungen, wie sie Vajda für den Osten formulierte. Die Befürchtungen nannte der amerikanische Politologe William Griffith, der mit Vaijdas Staatenbund die deutsche Westbindung gefährdet sah. Oder Graf Ferraris, der sie für eine Rehabilitierung der politischen Zielsetzungen Hitlers hielt. Und: Die Deutschen seien zwar tüchtig und fleißig, wenn auch, wie die Verschiebung der Referate auf der Tagung zeigte, nicht mehr ganz so pünktlich wie früher, aber sie seien ja keine Halbgötter, sondern bloß Deutsche. Wenn schon Konföderation, dann vielleicht eine pentagonale aus Jugoslawien, Ungarn, der Tschechoslowakei und Österreich und Ferraris Heimatland Italien. Uta Stolle