Er will sein wie Godeaut

■ Der Kleinstverlag Galrev wächst horizontal

Die Zeiten, in denen unzählige Kleinstzeitschriften mit einer Auflagenhöhe zwischen 15 und 50 in den Kunstkreisen des DDR-Untergrundes kursierten, sind vorbei. Es macht keinen Sinn mehr, Texte per Schreibmaschine zu vervielfältigen. Neue Auflagenhöhen mit Originalfotos oder -grafiken auszustatten, ist ebenfalls nicht mehr vertretbar, ökonomisch wie auch künstlerisch. Mit dem Realitätswechsel vollzog sich jedoch nur der Austausch des nicht gesuchten Gegenübers, gegen den die Macher in der Doppelfunktion als Herausgeber und Autor ihre Unabhängigkeit durchzusetzen hatten. Die offizielle Verlagspraxis gibt den Rahmen ab, in dem Literatur eine notwendige Autonomie findet. Das gerade eingeweihte Druckhaus Galrev ist ein solcher Verlag, zu dem sich ausschließlich Autoren und Lyriker zusammengeschlossen haben.

Die Verlagsphilosophie ist durch ein in den achtziger Jahren gewachsenes Selbstverständnis, die erwähnten Kleinstzeitschriften wie 'Schaden‘, 'Verwendung‘, 'USW‘ herauszugeben, geprägt. Von den zehn jährlich erscheinenden Büchern der Edition Galrev wurden bereits vier zusammen mit der ersten Zeitschrift des Verlages auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt: Zehn von Stefan Döring, Soja von Bert Papenfuß-Gorek, Pater Waterhouses Kieselsteinplan und die Textsammlung Abriß der Ariadnefabrik sind bereits optisch als Bestandteile einer Edition wiedererkennbar und sollen hauptsächlich über ein Abonnentensystem an die Käufer gehen.

Während viele Verlage und Verlagsneugründungen politisch und kulturell von der Aufarbeitung der DDR-Geschichte leben, also aus einer geistigen DDR-Situation ihre Programmatik bestimmen, versteht sich Galrev eher als Fortsetzung einer Literatur, die sich unabhängig davon, auch relativ unabhängig von Ländergrenzen, herausgebildet hat. Neben der konzentrierten Beschäftigung mit Lyrik liegt der Schwerpunkt auf Anthologien, begleitenden, theoretischen Texten, wie die Ariadnefabrik, sowie Übersetzungen fremdsprachiger Dichtung, z.B. aus dem Irischen des Paul Durcan. 1991 will Galrev außerdem Nachdichtungen aus der Sowjetunion durch eigene Autoren verlegen.

Fragt sich, wie ein so bedingungslos spezifisches Programm überleben kann — ganz sicher nicht ohne die Unterstützung bereits arrivierter Kunstmacher wie A. R. Penck. Denn Galrev bricht die Marktgesetze, nach denen 90 Prozent der Verlagsproduktion den lyrischen Rest finanzieren müssen. Der Bruch dieser Marktgesetze ist die Folge aus dem inhaltlichen Anspruch des Verlags, und das geht bis zu formalen Details. Bei Galrev kostet ein Buch 20 DM und nicht entsprechend dem gängigen Muster 19,80 DM. Diese formale Verweigerungshaltung geht mit sprachlichen Autarkiebestrebungen einzelner Autoren einher; so sind z.B. die Gedichte von Papenfuß-Gorek auf völlig subjektiven Kommunikationssystemen aufgebaut. Galrev versteht den Aufbau solcher eigenen Sprachstrukturen, einer eigenen Grammatik als eine Art Notwehr, um nicht den gängigen Kommunikations- und Konventionsnetzen zu erliegen.

Auch auf dem Musikmarkt will man aktiv werden und neben Schallplatten auch CDs und Kassetten herausgeben. Von Niko Tenten, dem Moderator der »Audionauten«, einer Sendung bei Radio 100, kam der Vorschlag an Galrev, Textautoren mit Musikern und Komponisten zusammenzubringen, die dann Tonträger zur Edition Galrev erstellen. Bisherige Praxis ist, daß sich Musiker der Texte erst dann annehmen, wenn diese bereits antiquiert sind und die Autoren nicht mehr leben. Galrev schwebt eine lebende Symbiose vor — Musiker und Autoren arbeiten gemeinsam an einem Einzelprodukt. Diese Musikproduktionen sollen dann regelmäßig im Verlags-Café »Kiryl« vorgestellt werden. Zur Eröffnung am vergangenen Samstag präsentierte sich dort die erste Verlagszeitung: 'Warten‘ von Dana Bordan und Rudolf Stoerl macht den Anfang, vierteljährlich sollen Zeitschriften folgen, die jeweils von verschiedenen Redaktionen erstellt werden. Unter dem gemeinsamen Titel »Sie will kein Kind, doch er will sein wie Godeaut« sollen 1991 vier Hefte erscheinen. Das erste heißt »Tugendterror« in der Redaktion der Westberliner Zeitung 'Niemandsland‘. Eine zweite Zeitung enthält Reaktionen von Künstlern auf Arbeitsbesuche in den USA, »Godeaut«, Nr. 3 ist die Fortsetzung von »Warten«, und die 4. Ausgabe der Zeitung beschäftigt sich mit irischer Lyrik, ediert von Bert Papenfuß-Gorek. Außer der Reihe, in Zusammenarbeit mit dem Verlag Janus Press und mit Unterstützung des Senats, wird die Anthologie »Vogel oder Käfig sein — Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften der DDR« erscheinen. Dazu veranstaltet Galrev am 28. November einen Lesungszyklus mit anschließender Filmvorführung und Konzert in der Stadtbibliothek. Micha Möller