Wenn Sozis über Geschichte nachdenken

■ Gedenkveranstaltung der SPD zum 9. November: Betroffenheit statt lautes Nachdenken

Berlin. »Erst einmal nur ein Datum« — so versuchte der Regierende Bürgermeister Walter Momper den 9. November, den »Schicksalstag der Deutschen« zu charakterisieren. Auch die Berliner Sozialdemokraten ließen es sich nicht nehmen, am Freitag abend eine inhaltsschwangere Diskussion über das Datum zu veranstalten. »Der 9. November — Ein deutsches Datum. Einladung zum Nachdenken über deutsche Geschichte« war der Titel einer Gedenkstunde, die aber gleichzeitig als Wahlkampfveranstaltung fungierte. Auf der Einladung prangte, nicht zu übersehen, die SPD des Wahlkreises 254 (Kreuzberg) mit ihrem Bundestagskandidaten Jürgen Egert. Den Eigentümern des ursprünglichen Veranstaltungsortes gefiel diese Ankündigung wohl nicht: Die evangelische Kirche im Bezirk Tiergarten, die die Matthäus-Kirche neben der Philharmonie versprochen hatte, lud die SPD wieder aus. Grund für Jürgen Egert, sich bitter über die Kirche zu beschweren. Man wolle keine Wahlkampfveranstaltung in der Kirche, so die Begründung der Zuständigen, was Egert aber nicht gelten lassen wollte. Schließlich habe man doch während des Umbruchs in der DDR gesehen, daß gerade die evangelische Kirche durch die Beherbergung der Bürgerbewegungen maßgeblich zum Sturz des Systems beigetragen habe. Wie sehr diese Analogie hinkt, fiel den etwa 200 nachdenkenden Sozialdemokraten im Otto- Braun-Saal der Staatsbibliothek, in den man schließlich umgezogen war, nicht auf — sie nickten beifällig. Auch andere Analogien trafen nicht, das wurde bei dieser Gedenkfeier zum deutschen 9. November so deutlich wie bei ähnlichen in der ganzen Republik: 1918, 1938, 1989, das magische Band durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts — nicht zu vergessen: 1923...

Walter Momper bemühte sich in seinem »Prolog« sichtlich, es nicht zu übertreiben mit der Interpretation von Ereignissen und ihren möglichen inneren Zusammenhängen. Den moralischen Zeigefinger erhoben jedoch fast alle Redner an diesem Abend, auch Momper, »Lehre und Mahnung«, »Freude und Trauer«, »nicht vergessen« — die immer wiederkehrenden Floskeln in den Reden. Scharf ins Gericht mit der deutschen Sozialdemokratie ging der Historiker Franz Dingel, der sich in seinem Vortrag mit der Novemberrevolution 1918 beschäftigte. Seine Analyse der Ereignisse verdiente diesen Namen als einzige. Schwieriger wurde es da schon mit der Pogromnacht von 1938, zu der der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Ostberlin, Peter Kirchner, sprach, und dem 9. November 1989, für den der Ostberliner Theologe und Innenstadtrat Thomas Krüger »zuständig« war. Die Hilflosigkeit vor beiden Daten wurde offenkundlich und wäre ehrlicher ausgefallen, hätte man auf die unsäglichen, teils würdig-ernsten, teils ernst-kabarettistischen Einlagen von Ex-DDR-Künstlern verzichtet. Angesichts der Daten und der künstlerischen Begleiterscheinungen ließ sich so herrlich nachdenken und den Schauer der Betroffenheit abwarten, mit leicht sakralem Einschlag, wie sich das für eine Veranstaltung in einer Kirche gehört hätte. Einzig Krüger versuchte, über die Betroffenheit hinauszukommen: Er könne nicht die großen historischen Fragen stellen, da er sich vorkomme wie in einem riesigen Teller Suppe, in dem er nicht über den Rand hinausschauen könne. Er versuchte, dem Ganzen mit Aphorismen, Metaphern und Humor beizukommen und konstatierte als Ergebnis der deutschen Einheit das Ende der Ideologien. Ein deutsches Datum... Kordula Doerfler