KOMMENTAR
: Die Rache der Vergangenheit

■ Kaiserkrönung in Japan, einem Land zwischen Geltungsdrang und Zurückhaltung

Vorsichtig, ohne Militärparade und ohne Jubelfeiern in den Straßen, inszeniert Tokio die erste Thronbesteigung eines japanischen Kaisers unter der demokratischen Nachkriegsverfassung. Der Welt wird keine selbstherrliche Darstellung der neuen Supermacht unter der aufgehenden Sonne geboten. Nur etwas Respekt verlangt die japanische Regierung, für den Kaiser und die Tradition des Landes. Ausdrücklich stellten die Gastgeber klar, daß sie von ihren ausländischen Gästen nicht einmal die übliche Verbeugung vor dem Thronbesteiger verlangen. Längst sind Tokios Regierende für ihre Künste der politischen Tiefstapelei weltbekannt. Und doch würden sie ihre Fahne manchmal gerne etwas höher hissen.

Nicht ohne Bitternis und Neid schweifen die Blicke aus Tokio über das neuentstandene Deutschland. Da wächst nun der einstige Kriegsverbündete, der Mitverlierer, zu neuer Größe heran und genießt zudem weltweit das höchste Ansehen. Franzosen und Polen, sie murren, aber sie schimpfen nicht. Um wieviel schwerer hat es demgegenüber Nippon. Als man eine Handvoll Soldaten für die Sache des Westens in den Golf entsenden wollte, meldeten Chinesen und Koreaner, die am heftigsten unter der japanischen Aggression im zweiten Weltkrieg gelitten hatten, sofort heftige Kritik an. Und selbst im eigenen Land schienen die Bürger verrückt zu spielen. Nein, bloß keine japanischen Soldaten in den Krieg schicken.

Lange genug hat es Japan versäumt, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Völlig unbemerkt ist nun das Ruder umgeschlagen. Plötzlich ist in Japan die Vergangenheit näher gerückt als in Deutschland. Während sich dieses im Glanze der erstandenen Einheit brüstet und sich anschickt, die politische Führung Europas zu übernehmen, gibt sich Nippon, das die Kriegsfolgen politisch noch lange nicht überwunden hat, weiterhin kleinlaut. Japans Regierung hat inzwischen erkannt, wie gut es sich macht, in Seoul und Peking regelmäßig um Vergebung zu bitten, und selbst der Tenno hatte vor kurzem entschuldigende Worte für den südkoreanischen Staatspräsidenten parat. Mit Vergangenheitsbewältigung hat das freilich nichts zu tun.

Jahrzehntelang wurde Nippons Außenpolitik in Washington gemacht. Heute neiden beide Länder die Macht des anderen, und Japan schwankt zwischen neuem Geltungsdrang und der angewöhnten Zurückhaltung. Schon vor Jahren erkannte der Frankfurter Schriftsteller Lothar Baier die Vorteile einer schwerbeladenen Vergangenheit: „Die europäische Zivilisation“, schrieb er aus deutscher Sicht, „stellt dem Schuldigen ein ganzes Arsenal von Betätigungsmöglichkeiten zur Verfügung, mit deren Hilfe er bei Kräften bleibt und gleichzeitig die Anerkennung durch die Mitwelt erwirbt. Er kann wiedergutmachen, reparieren, für die Entschädigung der Opfer sorgen, sich in Reue üben.“ Es ist zu befürchteen, daß dies auch für die japanische Zivilisation gilt. Georg Blume, Tokio