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»Politiker können Teil der Intelligenz sein«

■ Erster Tag des Besuches von Momper und Schwierzina in Moskau

Moskau. Ein bißchen ärgerlich war er schon, der parteilose Abgeordnete aus dem Mossowjet, dem Moskauer Stadtparlament. Nicht einmal eine kleine Meldung über den Besuch der Bürgermeister Momper und Schwierzina aus Berlin hatte er in der Zeitung gefunden. Jetzt studiert er das Programm der Besucher und registriert mit Genugtuung, daß die Visite beim ZK »erst ganz spät drankommt«. Je protokollarischer die Distanz zum Machtzentrum der KPdSU und zu Gorbatschow, dem vielgehaßten Mann im Mossowjet, desto sympathischer ist dem Herrn Abgeordneten der Herr »Momperov«. Der hat nun mit seinem Ostberliner Kollegen auf dem Podium des Moskauer Stadtparlaments Platz genommen und den etwas verblüfft dreinschauenden Deputierten die Grüße »der wiedervereinigten Stadt Berlin« übermittelt. Respektvoller Beifall; dann allerdings gleicht die Atmosphäre im Saal einem Klassenzimmer in der Pause. Die Ausführungen von »Momperov« über das friedliche Zusammenleben im »gemeinsamen europäischen Haus« sind zu weit weg von den Sorgen der Abgeordneten einer Stadt, in der die Regale immer leerer, die Schlangen immer länger werden. Fleisch, Wurst und Zucker sind kontingentiert, der Bezug von Zigaretten auf vier Päckchen im Monat beschränkt.

Unser Moskauer Abgeordneter präsentiert seine Tagesordnung für die heutige Sitzung: Privatisierung des Handels, Privatisierung des Wohnungswesens. »Viel Spaß in Moskau«, wünschten sie den Besuchern, nachdem Schwieromperov das Podium wieder geräumt hatten.

Die Wertschätzung des Besuchs aus Berlin wurde nicht mit Ehrendoktorwürden und Stehempfängen zum Ausdruck gebracht, sondern am ersten Abend durch eine Einladung in die Wohnung des russischen Schriftstellers und Lyrikers Jewginij Jewtuschenko. Dort hatte sich eingefunden, was in Kultur und Politik Rang und Namen hat. Neben Jewtuschenko waren das der Schriftsteller und Volksdeputierte Juri Afanasijew, der sowjetische Kulturminister Gubenko, Alexeander Jakownew, Mitglied des Präsidialrates und enger Vertrauter von Gorbatschow, Moskaus Oberbürgermeister Gawriil Popow sowie dessen Leningrader Kollege Anatolij Sobtschak. Mehrere Stunden wurde so im kleineren Kreis diskutiert; ein überschwenglicher Jewtuschenko lobte schließlich, abwechselnd Anne und Walter Momper küssend, die Berliner Gäste im Kreise der Dichter und Denker. »Das Gespräch«, schwärmte er, »hat gezeigt, daß auch Politiker Teil der Intelligenz sein können«. Die gestern früh vollzogene Unterzeichnung einer Absichtserklärung für ein »Abkommen über die Freundschaft und Zusammenarbeit« zwischen beiden Städten hatte eher symbolischen Charakter. Im sowjetischen Außenministerium gab sich Momper dann als glühender Verfechter der Reisefreiheit und wies schon den Versuch der »bürokratischen Abschottung« zurück. Noch zu Zeiten des Polen- Marktes hatte sich der Senat für Einreiserestriktionen für polnische Touristen stark gemacht. Das Problem des Exodus russischer Juden Richtung Berlin beziehungsweise Deutschland wurde noch nicht angesprochen.

Der Hinweis auf die deutsch-sowjetische Vergangenheit ist dagegen Bestandteil fast jeder Ansprache sowohl auf deutscher wie auf sowjetischer Seite. 1991 jährt sich der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zum 50. Mal. Der Name Berlin, so Momper gestern in seinem Vortrag, stand für viele Russen, Ukrainer, Belorussen und Balten »für das Böse schlechthin«. So versucht Momper denn auch, Berlin den Moskauern nicht als Hauptstadt, sondern als Metropole, Dienstleistungszentrum und möglichen Standort für KSZE-Einrichtungen nahe zu bringen. Darüber hinaus setzt man auf Kulturaustausch: Für 1994 ist ein »Berlin-Moskau-Projekt« mit Ausstellungen, Theaterinszenierungen und einem sechswöchigen Festival geplant, das im Frühjahr 1995 in Moskau wiederholt werden soll. Das war gestern im Mossowjet von zweitrangiger Bedeutung. Dort wartet man vielmehr gespannt auf die Decken, Dosen und den Zucker aus der Senatsreserve, die Berlin an die Sowjetunion verschenken möchte. Andrea Böhm, Moskau

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