DIE LEERE DER FREIHEIT VONMATHIASBRÖCKERS

Erinnert sich noch jemand an SDI? Wie kommt es, daß die „Strategische Verteidigungs Initiative“ so spurlos aus der öffentlichen Diskussion verschwunden ist, wo doch in der Vergangenheit die Gemüter der Welt nichts heftiger erregt hat als der von Amerika inszenierte „Krieg der Sterne“? Seit mindestens einem Jahr hat man nichts mehr davon gehört. Nicht, daß das Programm offiziell gestrichen wäre, in den Debatten um den US-Haushalt tauchte das Three-Letter-Word noch einmal kurz auf, aber es spielt keine Rolle mehr. Was ist passiert? SDI, die Aufrüstung des Weltraums, geplant als absoluter Höhepunkt des Kalten Kriegs, verursachte zum Schrecken des militärisch-industriellen Komplexes dessen plötzliches Ende.

Nun trifft eine derart monokausale Erklärung sicher ebensowenig zu wie die jüngst in einer Talkshow vorgebrachte These des Erzreaktionärs und -bischofs Dyba, nach der die deutsche Einheit allein dem Papst zu verdanken sei, der Solidarność und Polen gestärkt, dadurch die Grenzen Ungarns und somit die der DDR geöffnet hätte. Es bleibt aber ein Paradox — der militärisch-industrielle Komplex, böser Bube und Vater aller Dinge, setzt etwas in die Welt — und die Dinge entwickeln sich völlig anders. Natürlich haben sich die Hardliner und Falken des Kalten Kriegs mit der Klarstellung beeilt, daß ihr milliardenschweres Zähnefletschen eben genau die richtige Strategie war und das Billionending SDI als finale Drohung exakt die Wirkung gezeigt hätte, die man immer beabsichtigte: eine friedliche, humane Lösung. Dies läßt sich nur schwer widerlegen, die Herrn haben mit dem „Hitler“ Saddam Hussein fast nahtlos ein Ersatzmonster gefunden, welches den ungebremsten Weiterlauf der militärisch-industriellen Maschinerie garantiert — radikale Abrüstung, die Verwandlung der Falken in Tauben, wie sie nach dem allgemeinen Tauwetter an der Tagesordnung wären, ist wieder mal aufgeschoben.

Wie sollen sie sich aber auch verwandeln, wo sie als Falken doch offenbar bestens gefahren und in ihrer Identität keinesfalls verunsichert sind? Nietzsche hat es einmal so ausgedrückt: „Wer davon lebt, einen Feind zu bekämpfen, hat ein Interesse daran, daß er am Leben bleibt.“

Die entscheidende Frage wurde in all dem Jubel über die Öffnung Osteuropas und das Ende des Kalten Kriegs bislang gar nicht gestellt: Was wird aus dem Reich des Guten, wo das Reich des Bösen seinen Schrecken verloren hat? Die Selbstsicherheit, mit der sich die Frontkämpfer des Guten — Antikommunisten, Marktwirtschaftler und Freiheitsverteidiger — immer noch selbst auf die Schulter klopfen und ihren historischen Sieg feiern, zeugt von einer erstaunlichen Ignoranz: Sie haben noch gar nicht gemerkt, daß es mit dem Verschwinden der Bösen jetzt ihnen, den Guten, an den Kragen geht. Der allgemein diagnostizierte „Katzenjammer der Linken“ beruht auf derselben Dämlichkeit: vierzig Jahre lang wurde jeder Versuch von Reform und Veränderung, jede radikale Kritik am Bestehenden mit dem Hinweis „Geht doch nach drüben“ abgewürgt. Der Kapitalismus stand, angesichts der Unfreiheit des Kommunismus, ohne jede Alternative da, die sozialistische Murkswirtschaft sorgte dafür, daß noch die asozialste Marktwirtschaft gleichsam als Paradies auf Erden erscheinen mußte. Und mochte es auch ein Fegefeuer der Unterdrückung und Ausbeutung sein, gegen die Hölle des Kommunismus war es fraglos das kleinere Übel und bezog eben daraus seine Kraft, seine Sicherheit, seinen Optimismus.

Jetzt wird es jetzt all dieser Euphorie, des hemmungslosen „Weiter So!“-Wachstums beraubt, mit dem Verschwinden der Unfreiheit eröffnet sich die Leere der Freiheit — und damit der Kritik, der Reform, der Veränderung ein Feld von größtem Potential: Erst wenn die Hölle verschwunden ist, kann über die Temperaturen im Fegefeuer diskutiert werden. Insofern war die marktwirtschaftliche Öffnung des Ostens antikapitalistischer als 40 Jahre linke Politik im Westen. Das aktuelle Null-Ergebnis der Weltklimakonferenz deutet an, wohin die politische Reise zu gehen hat, jenseits von Gut und Böse.

WASMACHTDASREICHDESGUTENOHNEDASREICHDESBÖSEN?