„Wir werden diese Gesellschaft ein bißchen umkrempeln“

■ Ein Gespräch mit türkischen StudentInnen und SchülerInnen im vereinigten Deutschland über linke Ausländerfreunde, deutsche Monokultur, Jugendgangs, Tücken der deutschen Staatsbürgerschaft und ein neues Selbstbewußtsein der zweiten Generation/ „Die Jugendgangs haben das Schweigen gebrochen“

Sie sind hier geboren und zur Schule gegangen, sprechen zwei Sprachen und sind mit zwei Kulturen aufgewachsen. Verwurzelt sind sie in Deutschland, behandelt werden sie weiterhin wie AusländerInnen. In Zeiten deutschtümelnden Vereinigungsdunstes zählt zum Volk nur, wer deutsch ist, nicht, wer seit zwanzig Jahren oder länger hier lebt — das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat dies mit seinem Urteil zum kommunalen Ausländerwahlrecht noch einmal bestätigt. Gegen diese Ausgrenzung regt sich Widerstand in der zweiten Generation, den Kinder der EinwanderInnen. Die taz sprach mit türkischen StudentInnnen und SchülerInnen, alle zwischen 18 und 22 Jahre alt, die seit zwei Jahren in Berlin eine interkulturelle Zeitschrift mit dem Titel 'Kauderzanca‘ herausgeben — auf eigene Kosten, denn finanziell werden sie weder von der Jugendsenatorin noch der Ausländerbeauftragten unterstützt. Die JungredakteurInnen von 'Kauderzanca‘ sehen sich selbst am Anfang einer politischen Bewegung der zweiten Generation, die um eine eigene Identität und Kultur kämpft.

taz: Der erste Jahrestag der Grenzöffnung ist eher verhalten abgefeiert worden. Wie lebt es sich jetzt ohne Mauer?

Dilek: Mir ist im Prinzip seit dem 9. November ziemlich unwohl zumute — seit ich diese Massen auf den Straßen gesehen habe. Da hatte ich schon eine Vorahnung, was uns da erwarten würde. Ich bin hier aufgewachsen — und trotzdem habe ich mich noch nie so fremd gefühlt wie jetzt.

Murat: Ein paar Tage nach dem Fall der Mauer sind wir in einer Gruppe nach Ost-Berlin gefahren, einfach um die Stimmung drüben mal mitzubekommen. Auf dem Rückweg haben uns dann Skinheads auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße angegriffen. Seitdem habe ich keinen Fuß mehr nach drüben gesetzt. Unter den Immigranten wünschen sich eine ganze Menge, daß die Mauer wieder aufgebaut wird.

Cetin: Das war ja nicht die einzige Erfahrung. Eine Gruppe von uns ist in Ost-Berlin in der Disko angegriffen worden. Die Skinheads haben einen von uns böse zusammengeschlagen. Dazu kommt das, was man in den Medien liest und sieht. Eines steht jedenfalls fest: Die Mauer ist zwar weg — aber für uns ist sie immer noch da. Wir können uns in Ost- Berlin nicht frei bewegen. Die Mauer ist für uns höher geworden.

Könnt ihr euch den Haß erklären, der euch, aber auch den Vietnamesen, Mosambikanern und Polen in der ehemaligen DDR seit Monaten entgegenschlägt ?

Murat: Klar, die haben keine Erfahrungen mit Ausländern. Die wissen nichts über deren Alltag, für die sind wir Fremdobjekte und vor allem Störfaktoren. Für die sind wir Schuld an der sozialen Misere, wir nehmen ihnen die Arbeitsplätze weg usw....

Halil: Hinzu kommt die Erfahrung, einerseits Deutscher zu sein, andererseits wirtschaftlich und sozial schlechter zu stehen als die Immigranten im Westen. Das war für die Leute in der DDR psychisch gar nicht zu bewältigen. Von den westlichen Politikern ist das bewußt forciert worden, indem das Deutschsein plötzlich so aufgewertet worden ist.

Hanife: Wir haben kurz nach dem Mauerfall Interviews auf dem Alexanderplatz mit Jugendlichen geführt über die Konflikte, die sie jetzt erwarten. Keiner von denen war sich bewußt, daß da im Westteil der Stadt 300.000 Immigranten leben.

Ist das nun ein Lernprozeß, den „die da drüben“ noch durchmachen müssen....

Hanife: Die wollen so einen Lernprozeß gar nicht. Die schirmen sich im Moment ab...

Habt ihr denn versucht, Kontakte zu Jugendgruppen in Ost-Berlin herzustellen ?

Hanife: Das ist zu gefährlich für uns. Vor einigen Monaten ist zum Beispiel einer Westberliner Jugendgruppe nach Ost-Berlin gefahren, um dort ein gemeinsames Seminar über Ausländerfeindlichkeit zu veranstalten. Da waren aus dem Westen natürlich Ausländer mit dabei. Die sind angegriffen und verprügelt worden und mußten sich quasi in den Westteil der Stadt zurückretten.

Ayse: Jetzt sind eben auch die Kontraste viel stärker. Die spüren doch überall, daß sie Deutsche zweiter Klasse sind. Jetzt herrschen Konkurrenzkampf, Angst, soziale Unsicherheit. Und da brauchen sie einen Sündenbock. Und was wäre da geeigneter, als die Sündenböcke zu übernehmen, die es im Westen auch schon immer gab — nämlich die Ausländer.

Spätestens seit dem Fall der Mauer ist das „Deutschsein“ wieder ein entscheidendes Kriterium für den Platz in dieser Gesellschaft. Ihr habt alle die Einbürgerung beantragt, Cetin hat sie bereits bekommen. Was heißt das, wenn ihr plötzlich sagen könnt: Ich bin Deutscher?

Cetin: Für mich ist das erst mal eine rein formale Sache, weil ich dann bestimmte Rechte bekomme, die ich mit meinem türkischen Paß nicht habe. Wenn mich jetzt auf der Straße einer fragt: Welcher Nationalität gehörst du an, dann würde ich sagen: Keiner. Ich bin einfach Berliner und lebe hier. Da sagt der deutsche Paß nicht viel aus. Auf der Straße hat der keine Bedeutung.

Ayse: An der Ausländerfeindlichkeit ändert das natürlich für mich nichts. Ich werde auch in Zukunft nicht verhindern können, daß mir auf der Straße einer ins Gesicht sagt „Ausländer raus“, weil ich eben „ausländisch“ aussehe. Ich kann dann höchstens meinen deutschen Paß hochhalten und sagen: „Tut mir leid, geht nicht.“ Die Vorurteile schaffe ich damit nicht aus der Welt. Aber ich habe Rechte: Ich kann wählen, ungehindert reisen — und bei politischen Aktivitäten können sie mich nicht einfach abschieben. Aber deswegen werde ich nicht als gleichwertig akzeptiert.

Was sagen eure Eltern zu euren Einbürgerungsanträgen?

Halil: Unterschiedlich. Meine waren anfangs dagegen. Da ist die Angst, daß sie mich „verlieren“, daß ich verdeutscht oder germanisiert werde. Die reagieren immer noch verunsichert, wenn für mich Post von der Innenverwaltung ankommt.

Bist du „verdeutscht“?

Halil: Glaube ich nicht. Ich bin in Berlin aufgewachsen und identifiziere mich mit dem Leben und der Kultur hier in der Stadt. Aber das ist eben nicht meine einzige Identität. Meine Identität verschmilzt auch mit der Kultur, die ich durch meine Eltern mitbekommen habe. Und insofern kann man von einer „Verdeutschung“ gar nicht reden. Ich weiß gar nicht, was „Verdeutschung“ heißen könnte.

Ayse: Der Begriff „Verdeutschung“ hat was Negatives, und das möchte man sich natürlich nicht anhängen lassen. Aber alle von uns sind entweder hier geboren oder im Kleinkindalter hierhergekommen. Und keiner kann leugnen, daß wir von der deutschen und der westeuropäischen Kultur entscheidend geprägt sind. Daran finde ich auch nichts Negatives.

Dilek: Da gibt's aber noch eine andere Seite der Medaille — und das sind die Türken, die sich abschotten und nichts an sich ranlassen. Das hat sich in meinem Bekannten- und Verwandtenkreis nach der Maueröffnung wieder verstärkt. Da ist eine Rückkehrtendenz zu sehen. Viele denken darüber nach, die Koffer zu packen und zurück in die Türkei zu gehen, haben aber gleichzeitig massiv Angst um die Kinder, die natürlich nicht zurück wollen.

Könnt ihr euch vorstellen, daß es eine Rückkehrwelle eurer Elterngeneration gibt?

Murat: Fakt ist, daß unsere Eltern das im Moment sehr beschäftigt. Gerade nach dem 3. Oktober hätten viele am liebsten ihre Koffer gepackt. Aber das können sie nicht, weil ihre Kinder hier sind — und von denen trennen sie sich nicht. Wir sind ein Teil ihres Lebens.

Halil: Der Rückkehrgedanke ist ja nicht neu. Den gibt es, seit die Leute hier eingewandert sind. Der hat sich weniger durch die Vereinigung plötzlich verschärft, sondern langfristig dadurch, daß diese Gesellschaft sie immer kalt aufgenommen hat. Sie haben sich überall ausgegrenzt gefühlt, haben die Sprache nicht gelernt. Natürlich hat sich das jetzt seit dem Mauerfall nochmal zugespitzt, aber der Rückkehrgedanke wurde immer wachgehalten, weil die Deutschen sie immer als Gastarbeiter und Ausländer gesehen haben — mehr nicht. Zurück können sie aber nicht, weil sie dann ihre Kinder opfern müßten. Ich glaube deshalb, daß sich eher eine Pendelbewegung entwickeln wird. Sie werden zwischen der Heimat und uns hin- und herpendeln. Diese Tendenz läßt sich jetzt schon beobachten.

Ist die Türkei für euch Heimat?

Halil: Die zweite Generation ist da ziemlich gespalten. Manche von uns fühlen sich der Kultur der Eltern — und damit der Türkei sehr stark verbunden. Andere identifizieren sie hier in Deutschland mit der Sprache und der Kultur. Und dann gibt's die Leute, die zwischen den Stühlen sitzen. Die einzige Möglichkeit, aus diesem Konflikt zwischen den Kulturen herauszukommen, ist, eine eigene zu entwickeln.

Cetin: Der Konflikt wird aber auch immer wieder geschürt, indem man uns vor die Wahl stellt, uns entweder für die eine oder andere Kultur zu entscheiden. Dabei ist es etwas Einmaliges und Neues für dieses Land, daß es hier Menschen gibt, die mit zwei Kulturen aufgewachsen sind.

Vor kurzem wurde auf einem Medienseminar mit Teilnehmern verschiedener nationaler Herkunft von einem Journalisten, der in Italien geboren und hier aufgewachsen ist, das Motto geprägt: „Die Zukunft gehört den Bastarden.“ Würdet ihr euch sowas auf die Jacken nähen?

Halil: Ich denke und hoffe, daß die Zukunft den Bastarden gehört. Weil die Bastarde die ersten sind, die diesen Nationalgedanken zwangsläufig überwinden. Sie werden eine gesellschaftliche Diskussion initiieren — vorausgesetzt, es gelingt ihnen, ihre eigene Identität zu entwickeln.

Nur hört sich das gerade jetzt, wo man sich wieder an das Deutschnationale klammert, wie eine ferne Utopie an...

Dilek: Meine Hoffnung ist, daß diese Deutschtümelei zum Beispiel durch den europäischen Binnenmarkt wieder etwas zurückgedrängt wird. Ich hoffe, und das gilt auch für die Leute in der ehemaligen DDR, daß unsere Generation diesen Nationalgedanken hinter sich läßt.

Cetin: Natürlich gibt es gerade jetzt enorme Widerstände gegen eine Bastardkultur. Schau Dir doch nur die Argumente gegen das kommunale AusländerInnenwahlrecht an. Da wird von den Rechten behauptet, die Türken und Griechen würden ihre Konflikte dann in deutschen Parlamenten austragen. Da faßt man sich doch an den Kopf.

Das Bundesverfassungsgericht hat das kommunale AusländerInnenwahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Überraschend kam diese Entscheidung nicht. Ist das Thema für euch abgehakt?

Murat: Nein, natürlich nicht. Irgendwann hätten wir in Berlin auch gerne was zu sagen.

Dilek: Klar, nach der Kampagne gegen das Wahlrecht für uns haben viele resigniert und konzentrieren sich jetzt auf andere Wege — zum Beispiel Einbürgerung.

Cetin: Das ist sicher richtig, aber das Wahlrecht müssen wir weiterhin fordern, auch wenn das Verfassungsgericht es jetzt ablehnt. Verfassungen kann man ändern — und sie sind auch schon geändert worden. Ich bin jetzt schon eingebürgert, aber deswegen setze ich mich weiterhin für das kommunale Wahlrecht ein. Das muß einfach jedem zugestanden werden, der für längere Zeit hier lebt.

Ihr habt kein Wahlrecht, also müßt ihr euch zumindest in den Parlamenten auf solidarische deutsche Politiker verlassen, die in der Regel eher bei den Grünen oder vielleicht noch bei der SPD zu finden sind...

Murat: Auf die können wir uns auf keinen Fall verlassen. Wir müssen uns selber vertreten.

Was bewegt eurer Meinung nach einen Deutschen, sich im Bereich der Ausländerpolitik zu engagieren?

Halil: Sicher auch menschliche Gründe. Man will den gesellschaftlich Schwächeren helfen. Das Gefühl, den Schwächeren oder auch den Primitiveren helfen zu können, stärkt natürlich auch das eigene Überlegenheitsgefühl. Das fing für mich schon in der Schule an, als ich in eine besondere Vorbereitungsklasse gesteckt wurde, weil ich Ausländer bin. Wir fühlen uns aber nicht hilfsbedürftig. Davon abgesehen schafft die Beschäftigung mit dem Thema Ausländer eine Menge Arbeitsplätze.

Hanife: Das ist natürlich auch für die politische Identität von Linken ganz wichtig, sich in der Ausländerpolitik zu engagieren. Aber was dabei herauskommt, haben wir ja gesehen. Verlassen können wir uns auf die nicht. Und wenn es jetzt in den nächsten Jahren hart auf hart kommt, werden viele abspringen. Solche Leute haben kein Durchhaltevermögen.

Cetin: Ich möchte schon mal festhalten, daß in der Ausländerpolitik viele Deutsche mitarbeiten, die es sehr ernst und ehrlich meinen. Nur jetzt ist die zweite Generation da. Die spricht sehr gut Deutsch und kennt die gesellschaftlichen Verhältnisse bestens — und sie wird sich ihrer Lage zunehmend bewußt. Wir wissen, daß wir mit zwei Kulturen aufgewachsen sind, und wir wissen, daß es in dieser Gesellschaft Rassismus gibt. Und wir können die Leute bewegen, ihre Sache jetzt selbst in die Hand zu nehmen. Nicht gleich im nächsten Jahr, aber der Prozeß der Bewußtwerdung hat begonnen, und die Bewegung wird folgen.

Halil: Die erste Generation hatte die Voraussetzungen nicht, aber wir haben sie. Ich denke wir können durchaus eine außerparlamentarische Bürgerrechtsbewegung initiieren und diese Gesellschaft ein bißchen umkrempeln.

Seid ihr manchmal wütend auf eure Eltern, weil sie sich so wenig gewehrt haben?

Murat: Nein, traurig bin ich manchmal. Sie tun mir leid für das, was sie durchmachen mußten. Ich fühle mich verpflichtet, für sie auch etwas nachzuholen.

Halil: Ich bin eher wütend auf politische Kräfte unterden Immigranten, die wahrlich nicht die optimalen Grundlagen für uns geschaffen haben. Das hätten sie durchaus tun können, indem sie sich hier politisch engagiert hätten. Statt dessen haben sie sich, was politische Aktivitäten betrifft, meist auf die Heimat orientiert. Das gilt für das linke wie das rechte Spektrum. Jetzt, wo die zweite Generation sich zu orientieren beginnt, fangen die linken politischen Kräfte unter den Türken an, sich mit der Situation in Deutschland auseinanderzusetzen.

Ayse: Ich bin übrigens dagegen, daß hier immer von der zweiten Generation gesprochen wird, als handele es sich um eine homogene Schicht. Gemeint sind die Kinder derer, die hier eingewandert sind, um hier zu arbeiten. Wenn ich mir diese Schicht ansehe, zum Beispiel die Jugendlichen in meinem Alter in Kreuzberg, dann liegen da Welten zwischen uns. Wir sitzen hier im Elfenbeinturm. Das Potential für die politische Bewegung der zweiten Generation wird meiner Meinung nach überbewertet.

Cetin: Das stimmt doch nicht — die wehren sich bloß anders. Die gründen eben Jugendgangs. Es gibt verschiedene Formen sich zu wehren. Die haben nicht die Voraussetzungen, die wir haben. Wir wehren uns eben durch die Zeitung.

Wenn jetzt von der zweiten Generation die Rede ist, geht es meistens um die Jugendgangs. Die sorgen für die Schlagzeilen. Wie nahe oder wie fern sind euch Jugendliche, die mit dem Baseballschläger losziehen, um sich in Ost-Berlin mit Skinheads zu prügeln?

Cetin: Natürlich gibt es da eine Distanz. Aber die bezieht sich nur auf deren Widerstandsform. Ansonsten haben die unter den gleichen Bedingungen gelebt und gelitten wie wir. Ich finde das wirklich nicht toll, wenn die da Skinheads aufschlagen, aber wir können sie verstehen.

Mich beschleicht aber oft das Gefühl, daß politische Mißstände wie das Ausländergesetz von den Gangs mittlerweile als Legitimation für jeden Angriff, jede Schlägerei benutzt wird...

Cetin: Das stimmt schon, der politische Hintergrund ist in jedem Fall aufgesetzt. Aber trotzdem ist ihr Verhalten eine Reaktion auf die Art und Weise, wie sie aufgewachsen sind. Im übrigen ist das ja kein ewiger Zustand. In zehn Jahren sind die meisten von denen verheiratet und führen ein normales Leben.

Halil: Man sollte die Jugendgangs nicht als politische Kraft mißverstehen. Das sind für mich Gruppen von Gleichaltrigen, die versuchen, mit den Konflikten mit ihren Eltern und einer Gesellschaft, die sie ausgrenzt, fertigzuwerden. Und das geschieht auf der Straße — nicht zu Hause, nicht in der Schule und nicht in Freizeitheimen. Aber ich glaube, die werden in der nächsten Zeit auch politischer, einfach durch die Diskussion, die jetzt unter uns in Gang kommt. Und eines wird immer unterschlagen: Die Jugendlichen in den Gangs haben einen großen Schritt getan, weil sie das Schweigen gebrochen haben. Alle anderen haben bislang geschwiegen. Das muß man ihnen zugute halten, anstatt sie zu kriminalisieren.

Ihr habt selbst beschrieben, wie heikel eure Position in dieser Gesellschaft ist, zumal die Karten für die soziale Hierarchie nach der Vereinigung neu gemischt werden. Nun ist Berlin nicht nur eine Stadt mit über 300.000 ImmigrantInnen, sondern auch eine Stadt, die in den nächsten Monaten und Jahren mit einer massiven Zuwanderung von Menschen aus Polen, der Sowjetunion, Rumänien und Jugoslawien rechnen muß. „Das Boot ist voll“, heißt die Wahlkampfparole bei CDU, aber auch Teilen der SPD. Gibt es für euch in Berlin eine Aufnahmegrenze?

Ayse: Das ist ein verdammt heikles Thema. Ich kann aber nicht sagen: Es dürfen keine Menschen mehr aufgenommen werden. Bei meinem Status müßte ich mir dann ja sagen: Warum gehst du nicht selbst — in der Türkei ist ja genug Platz. Daß sie jetzt an den Flughafen kontrollieren, ob einer ein Visum hat, ohne auf die mögliche politische Verfolgung einzugehen, finde ich haarsträubend.

Halil: Der Punkt ist doch, daß man die Flüchtlinge und Zuwanderer gar nicht aufhalten kann. Da werden immer mehr kommen. Schließlich beuten wir sie aus, und leben auf ihre Kosten. Und solange die reichen Staaten ihre Politik nicht ändern, müssen sie sich damit auseinandersetzen, daß die Menschen hierherkommen. Aber sie reden ja hier schon wieder vom zweiten Wirtschaftswunder, also werden sie die Flüchtlinge und Zuwanderer für den Arbeitsmarkt brauchen. Man wird sie hier arbeiten lassen und dann wieder nach Hause schicken — nach dem Rotationsprinzip. Das ist ja hier nichts Neues. Das bleibt auch nicht auf Deutschland begrenzt. Die Festung Europa wird längst gebaut — auch um den Zufluß von Arbeitskräften zu kontrollieren. Interview: Andrea Böhm