Der Held von Bagdad im Wedding

■ Willy Brandt spricht vor dem Rathaus Wedding trotz Erkältung zum verschnupften Volk/ »Hier bin ich ja praktisch zu Hause.«

Wedding. Der Held von Bagdad, Befreier der Geiseln und Opa von Lafontaine, hat Schnupfen. Rund tausend Menschen würden ihm sofort ihr Taschentuch reichen, wenn er nur drum bäte. Willy Brandt jedoch hat schon ganz andere Krisen ohne fremde Hilfe gemeistert — was ist schon eine laufende Nase?

Da, wo die Erbsensuppe noch einsfuffzich kostet und sich die Arbeiter ihr bitterkaltes Pils ohne mit der Wimper zu zucken auch im Winter noch draußen auf der Straße einpfeifen, ist sein alter Wahlkreis. »Is doch schön, daß die Mauer weg is!« spricht er vor dem Rathaus Wedding an die früheren Randbezirkler. Auch die übrigen Äußerungen Brandts bewegen sich etwa auf diesem Niveau. Die Weddinger jedoch lieben ihren Willy noch mehr, als der Rest der Welt das ohnehin tut. »Es iss 'n schönes Gefühl, wieder hier zu sein. Hier bin ich ja praktisch zu Hause«, sagt der ehemalige Berliner Bürgermeister, Nobelpreisträger, Alt-Bundeskanzler, Chef der Sozialistischen Internationale, Ehrenvorsitzende der SPD und Bundestagsabgeordnete. Renommee hin, internationaler Ruf her: Seinen Parteibeitrag zahlt Willy immer noch an den sozialdemokratischen Ortsvereinskassierer im Wedding.

Willy ist viel rumgekommen in der Welt, erst letzte Woche war er bei dem »Irren von Bagdad«. Im Wedding hat er damals begriffen, »daß man nich immer mit dem Kopf durch die Wand kann, wenn man was erreichen will«. Auf diejenigen, die jetzt an seiner Reise »rummäkeln« ist er nicht gut zu sprechen. »Ich wäre da auch für einen einzigen Landsmann hingeflogen!« beteuert er. Das hatte er allerdings auch schon in der deutschen Botschaft in Bagdad gesagt. »Ob das so gut ist, daß sich dort jetzt Tausende in den Wüstensand eingraben?« fragt er kritisch. Doch den Glauben daran, daß der Frieden erhalten bleiben kann, »den hab ich noch nicht aufgegeben«, spricht er bedächtig. Trotz der beinharten Kälte wird den Menschen vor dem Weddinger Rathaus warm ums Herz bei diesen Worten.

Was Willy sich wünscht? Starke Schultern sollen mehr tragen als schwache. Den Bürgern soll reiner Wein eingeschenkt werden bei den Kosten der Einheit. Die Bundesregierung soll aus Bonn verschwinden und nach Berlin kommen, weil das Geld bringt. Da nickt die Rentnerin, der Hooligan zieht nachdenklich die Stirn in Falten, die kritische junge Frau nickt zustimmend und der Malocher tut einen tiefen Schluck aus der Pulle. Willy erinnert sich: An Chrustschow und sein Ultimatum an die Berliner, an das Rathaus Schöneberg, an vergangene Zeiten eben. »Die Älteren hier werden sich erinnern!« ruft er, die tun das auch — seufzend. Willy Brandt, ein Denkmal. »Wo ist der bloß so braun geworden?« wundert sich eine Hausfrau über den Teint des alternden Kosmopoliten. Die paar Tage in Bagdad können das doch nicht bewirkt haben. Und der Abend im Wedding erst recht nicht. ccm