Da hilft nur die neue Zeit

■ Hamburger Gruppe Babylon spielt zwei „Gewaltakte“ von August Stramm

Jewiß... wir kennten so scheen lebn ... so ... Sie steckt die Zunge in die Flasche, um auch den allerletzten Tropfen Korn rauszuholen. Er zieht an der Kippe und sieht schon wieder recht zuversichtlich aus. Eben wollten sie sich noch umbringen, aber dat Jas war schon abgestellt, dann entdeckten sie Korn und Kippe und die Lebensgeister sind zurückgekehrt. ... Schafsköppe ...wir... solang der Mensch noch Schnaps hat...

August Stramm (1874-1915), der frühexpressionistische Spracherneuerer, wollte eigentlich Theologie studieren, doch auf Wunsch der Eltern trat er, wie sein Vater, in die Postverwaltung ein. Er heiratete Else Krafft, Tochter eines Redakteurs der 'Vossischen Zeitung‘, die unter dem Namen Isolde Leyden Liebesromane und Gedichte schrieb, und führte ein kleinbürgerliches Leben. 1909 promovierte er mit einer Arbeit über Das Welteinheitsporto.

Nachdem „das Dichten plötzlich kam wie eine Krankheit“, sagt seine Tochter, gelang dem Postinspektor in den Jahren 1912/13 ein richtiger literarischer Durchbruch. Er veröffentlichte in Herwarth Waldens expressionistischer Kunst- und Literaturzeitschrift 'Der Sturm‘ und wurde das bedeutendste lyrische Talent seiner Zeit genannt. Als Sprachschöpfer und konsequenter Zertrümmerer konventioneller Syntax war Stramm für die Folgezeit von großem Einfluß, gehörte aber nie zu den Heyms, Trakls und Benns, die die bleibenden „zeitlosen“ Kunstwerke ihrer Epoche schufen. Als Dramatiker wurde er gar völlig vergessen.

Die Gruppe Babylon, seit 1984 mit ihrer Regisseurin Barbara Bilabel auf dem Hamburger Kampnagelgelände tätig, hat sich nun in veränderter Besetzung und unter Leitung von Andreas von Studnitz der kruden, sehr skizzenhaften Strammschen Einakter angenommen. Mit Rudimentär und Erwachen stellen sie zwei „Gewaltakte“ zur Diskussion, die exemplarisch den oft so beklagten Widerspruch vieler expressionistischer Texte zeigen: Auf der einen Seite die als revolutionär geltende Gesellschafts- und Ideologiekritik, der andererseits das Pathos vom Aufbruch entgegensteht, das bis zur irrationalen Verherrlichung eines Individuums reicht. Letzteres hat Lukács als Wegbereiter des Faschismus gedeutet, gerade auch weil Gottfried Benn bekanntermaßen kurz mit dem Hitler-Faschismus liebäugelte.

Für August Stramm ist nicht auszumachen, wohin ihn seine leidenschaftliche Anklage gegen das Wilhelminische Wertesystem und seine Utopie vom „Neuen Menschen“ geführt hätte. Er fiel schon im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs, am 1.September 1915 in Rußland. Sicher ist, daß Hitler seine Texte als „entartete Kunst“ verdammt hat, und der sozialistische Realismus seine — wie die meisten expressionistischen — Werke als „dekadent“ ablehnte.

Tatsächlich ist Rudimentär ein Affront gegen romantische Sozial- und Mitleidsdramen. Denn das Leben in Stramms vom Naturalismus beeinflußten Elendsmilieu ist so armselig, daß es schon wieder komisch ist. Er und Sie sind eigentlich komplett am Ende: Der Selbstmord klappt nicht, das Gas ist abgestellt, das Baby stirbt, der Hund haut ab. Dann kommt ein Freund — Der Chauffeur — zu Besuch, reklamiert die Frau für sich, lädt die beiden in den Tiergarten ein und die Welt ist wieder in Ordnung. Zu dritt verläßt man unter Lachen und Kreischen das Zimmer.

In der winzigen schwarzgrauen Bruchbude (Bühne: Petra Korink) steht sich das stupide, unsymapthische Paar immer gegenseitig im Weg. Barbara Neureiter und Michael Schönborn betonen die Komik dieser schrägen Typen. Sie, die Schlampe, wechselt gekonnt lakonisch von einer Stimmung in die nächste. Bewundert und beschimpft ihren Willi, jammert über den Tod des Babys und vergißt es beim Anblick ihrer Sonntagsbluse sofort wieder. Ihm sind sogar die geringsten Anwandlungen von Sentimentalität oder Selbstmitleid abhanden gekommen. Stumpfsinnig denkt er nur an ein paar Märker, das Fressen, die Frau und den Schnaps. Die abgerissene Sprache im preußisch-altberliner Jargon kommt den beiden wie auch dem Chauffeur (Niels Hansen) fremd über die Lippen, was, Distanz schaffend, zusätzlich jedes Mitleid verhindert. Diese Menschen sind sich so entfremdet, daß da nur eine völlig neue Zeit hilft.

Die wird diffus in Erwachen beschworen. Wieder sind ein Mann (Ralf Knicker) und eine Frau (Angelika Buddecke) im Bett, diesmal sprechen sie hochdeutsch, gehören also der „besseren“ Gesellschaft an. Sie wacht auf, hat Alpträume, er will sie beruhigen, aber ihm zerbricht dabei nicht nur die alltägliche Logik, sondern beim Versuch, das Fenster zu öffnen, auch die Hauswand. Aber nun beginnt mit seinem Alptraum auch die Erlösung. Eine geifernde Masse dringt ein. Zuerst muß er sich gegen sie wehren, doch dann geht sein Blick in eine andere Welt, zu einem fernen Stern, der ihn leitet. Nachdem die Menschen ihn erst als Zerstörer beschuldigen, erkennen sie ihn später als ihren Baumeister an und verehren ihn.

Den Zugang zu diesem Geschehen erleichtert auch die an expressionistische Filmvorbilder angelehnte Inszenierung nicht. Die Fremdheit bleibt. Abrupte farbige Lichtwechsel verändern die Atmosphäre, heben die Figuren holzschnittartig hervor. Die stark stilisierten Gebärden werfen große Schatten an die Wand. Und doch gewinnt die Inszenierung durch intensives Spiel und geschicktes Licht sowie eine Toncollage aus Musikfetzen und Sprache eine bedrohliche Dichte, die die Zuschauer ins Geschehen reinzieht und sie später nachdenklich, vielleicht geradezu verwirrt zurückläßt. Barbara Riecke

August Stramm: „Rudimentär“ und „Erwachen“. Regie: Andreas von Studnitz/ Gruppe Babylon. Bühne: Petra Korink. Mit Michael Schönborn, Barbara Neureiter, Niels Hansen, Ralf Knicker, Angela Buddecke. Nächste Aufführungen: 13./14.11. Städtische Bühnen Münster, voraussichtlich im Januar wieder in der Hamburger Kampnagelfabrik.