Neue Kommunikationsprothese: Cyberspace

■ Die globale Vernetzung schreitet voran/ Statt Monitor und Tastatur werden 3-D-Helmdisplay und Datenhandschuh übergestreift

Nach künstlicher Intelligenz, Computerkids und KGB-Hackern hat es die Computerindustrie zu einer neuen medialen Verkaufshilfe gebracht — „Virtual Reality“ (VR), die ultimative Benutzeroberfläche für den Rechenknecht, Mythenbildung inbegriffen. Die Vollrauschversion, eine weltumspannende elektronische Matrix namens „Cyberspace“, erlangte durch den Roman des Science-fiction-Autors William Gibson bereits Kultstatus. Statt Monitor und Tastatur werden als Schnittstelle 3-D-Helmdisplay und Datenhandschuh übergestreift — Befehle tippen entfällt, dito Programmiersprachen. Völlig losgelöst genügt eine Bewegung mit dem imaginären Zeigefinger, das in den Augen projizierte Datenuniversum zu manipulieren.

Eine kalte Technik wird menschenfreundlicher, die binäre Logik kuschelweich, so läßt sich die Begeisterung der Entwickler an amerikanischen Universitäten und in kalifornischen High-Tech-Klitschen wie „Frame8“ und „VPL“ zusammenfassen. Demokratisch, bewußtseinserweiternd und im vernetzten Vollausbau der Völkerverständigung dienend — nach dem Vorbild des Apple-Gründers Steve Jobs nehmen die Pioniere in den Hinterhofwerkstätten schon fast traditionell in Anspruch, mehr dem Allgemeinwohl als der Technik (und der schnöden Kohle) verpflichtet zu sein.

Dabei ist bislang vergleichsweise wenig los in der real existierenden VR, zumindest in der zivilen Version. Schlechtauflösende Grafik, stockende Bewegtbilder und klobige Datenprothesen beim eigenen Gerät blieb bei einer „Frame8“-Session Ende September in Ost-Berlin nichts anderes übrig, als das Video einer Rüstungsfirma in den Rekorder zu schieben — der fast fotorealistisch simulierte Anflug eines Kampfhubschraubers als Ausblick auf zukünftige Anwendungen in Bildung, Wissenschaft und Technik. Die VR, auf der selben Veranstaltung von Ex- LSD-Prophet Timothey Leary als „Quantensprung“ in ein friedliches Informationszeitalter gefeiert, hat die Flugsimulation als Vorfahren, entwickelt von Nasa und Pentagon — die Gehversuche der kalifornischen Computerhippies sind erst durch die relativ preiswerten Super-PCs möglich geworden.

Aus dem Vollen schöpfen konnte dagegen schon immer die US-Army, so wird die faseroptische Helmanzeige FOHMD, eine viertel Million Dollar teuer, unter anderem für die Schulung von „Apache“-Piloten eingesetzt. Der Hubschrauber gilt unter Wüstenkriegern als mit das wichtigste Waffensystem am Golf — angedacht ist auch, Waffensysteme „virtuell“ komplett fernzusteuern. Das reale Grauen auf dem Schlachtfeld verflacht zu einer Runde „Space-Invaders“-Abknallen. Passenderweise haben die Spielzeughersteller die VR bereits für sich entdeckt.

Mal angenommen, daß das bald preiswerte VR-Equipment in jedem Kaufhaus zu haben ist und die Vernetzung voranschreitet, bleibt die Frage, wozu eine neue Kommunikationsprothese? Was sich denn nun zwischen den Menschenseelen, über das virtuelle Band der Symphatie im digitalen Tagtraum vereint, eigentlich abspielen soll, wußte auch Herr Leary nicht zu sagen. Ein frei manipulierter „green sky“ aus der Grafikkarte fiel ihm ein, auch „red grass“, um sich zum Geschlechtsakt mit dem Computer weich zu betten — der virtuelle Datenraum als egozentrierter 3-D-Malkasten. Ernsthaft zu bezweifeln ist, das ein bloßes „more“ an Sinnesreiz den eh schon von medialer Überflutung halbgelähmten Zeitgenossen zu emanzipiertem Handeln anregt.

Mit der weitverbreiteten Mär, auf Computer abfahren habe, positiv wie negativ, etwas mit dem Abstreifen von Konventionen zu tun, geht eine jüngst veröffentlichte Studie hart zu Gericht. Das Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ befragte 449 männliche Computerfans nach ihren Lebensentwürfen. Für die überwiegende Zahl der zwischen 10 und 23 Jahre alten Hobbyprogrammierer gilt demnach: „Unser Computerfan repräsentiert eine Persönlichkeit, die dem zentralen Lebensziel der bürgerlichen Gesellschaft — Erfolg und Berufsidentität — entspricht und aus dieser Sicht eher als gesellschaftlicher Stabilisierungsfaktor beschrieben werden müßte.“

Neben zunehmendem Karrieredruck machen die Autoren Noller/ Paul als Ursache aus, daß „die einseitige Interaktion mit informationsverarbeitenden Maschinen keine Stellungnahmen und Selbsthinterfragungen des Individuums erzwingt, die zur Ausbildung einer selbständigen Identität notwendig sind.“ Das gelte allemal auch für die Spielzeugwelt des Cyperspace: Widerstandslos lassen sich alle Unbequemlichkeiten einschließlich der Mitspieler wegklicken — einfach traumhaft. Macht über die Maschine zu erlangen ist, gemessen an der Bewältigung sozialer Konflikte eben vergleichsweise streßfrei. Auch und gerade (jung- )männlichen Identitäts- und Körperkrisen läßt sich so mit der Flucht vor oder eben besser noch hinter den Bildschirm ausweichen — zumal sie, zumindest solange die Mythen funktionieren, durch den „Exotenstatus“ Sozialprestige abwirft. Der Versuch, für die Studie auch junge Frauen zu befragen, scheiterte schlicht daran, das sich kaum Mädchen fanden, die sich im engeren Sinne als „Fans“ verstehen. Obwohl Frauen den Computer zunehmend und selbstverständlich benutzen, lehnen sie ihn als Identifikationsobjekt ab, — für die männlichen Freaks dagegen übersteigen die sozialen Bedeutungsgehalte an Wichtigkeit das eigentlich Technische.

Einer anderen Studie steht denn auch die Frage voran, ob die faszinierte Aneignung des Computers nicht als Versuch zu deuten ist, „sich trotz des Verschwimmens von Orientierungen doch noch als Mann in der großen Welt beweisen zu können“ — ob sie nun echt ist oder virtuell, ließe sich hinzufügen. Frank Holzkamp