KOMMENTAR
: Doppeltes Risiko

■ Selbstverwaltung ehemals volkseigener Betriebe als letzter Ausweg

Viele Belegschaften ehemals volkseigener Betriebe wollen ihre Arbeitsplätze durch Übernahme der Unternehmen in eigene Regie retten. Dabei geht es ihnen nicht so sehr darum, auch nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus noch ein bißchen „Volkseigentum“ zu bewahren. Ihr Motiv ist vielmehr die berechtigte Furcht vor Arbeitslosigkeit, die Verzweiflung über die drohende Vernichtung dessen, was sie über 40 Jahre aufgebaut haben. Belegschaftsmodelle entstehen in aller Regel nicht als Alternative zur Übernahme durch West-Unternehmer, sondern als letztes, verzweifeltes Mittel gegen den drohenen Konkurs. Insoweit sind die zahlreichen Versuche in den Ländern der ehemaligen DDR vergleichbar mit ähnlichen, teils erfolgreichen, teils gescheiterten Experimenten, die es vor allem Anfang der 80er Jahre in Westdeutschland gab.

Eine Krisensituation, wie sie für die meisten Betriebe in den fünf neuen Ländern und in Ost-Berlin besteht, ist nicht die beste Voraussetzung für ein gewagtes Experiment. Denn wenn die Beschäftigten sich zu Eigentümern ihrer Betriebe machen, gehen sie ein größeres Wagnis ein als bei ausschießlich abhängiger Beschäftigung: Zum Risiko drohender Arbeitslosigkeit kommt im Falle des Konkurses das Eigentümerrisiko noch hinzu. Da kann es leicht passieren, daß Beschäftigte Teile ihres mühselig und jahrelang Ersparten dem Pleitegeier zum Fraße vorgeworfen haben und am Ende nicht nur arbeitslos, sondern auch noch hoch verschuldet sind. Wenn am Anfang eines solchen Experiments nicht eine genaue, nüchterne Analyse über Marktchancen und Sanierungsmöglichkeiten steht, ist es verantwortungslos, die größtenteils unerfahrenen und gutgläubigen Belegschaften in Ostdeutschland für Betriebsübernahmemodelle zu mobilisieren.

Insofern ist die zögerliche, eher skeptische Haltung der Treuhand zu Belegschaftsmodellen durchaus verständlich. Die Arbeitshypothese der Treuhand ist ja gerade, daß private westliche Aufkäufer für kurz- oder mittelfristig profitable Betriebe nicht nur gesucht werden, sondern auch zu finden sind. Umgekehrt heißt das: Wenn ein Betrieb nicht zu verkaufen ist, besteht zumindest der Verdacht auf erhöhte Risiken. Wenn in solchen Betrieben Belegschaftsmodelle probiert werden, sollten die Beschäftigten so weit wie möglich gegen die Unternehmerrisiken abgeschirmt werden, ohne allerdings die Chancen, die solche Versuche bieten, zu zerstören.

Für viele durchaus sanierungsfähige Betriebe drängt die Zeit. Sie können nicht darauf warten, bis sie endlich mit dem Segen der Treuhand von einem Westunternehmer wachgeküßt werden, sondern müssen sofort handeln. Das monatelange Warten auf den West-Boss, der endlich alles in die Hand nimmt, wirkt sich schon jetzt in vielen Betrieben lähmend aus. Viele Belegschaften wollen und können sofort handeln, wenn man sie nur läßt. Die Bereitschaft von Beschäftigten, Verantwortung für den eigenen Betrieb zu übernehmen, mag vielfach dem Mut der Verzweiflung entspringen. Aber sie ist auch ein Stück Eigeninitiative, ein Schritt zur Selbstbestimmung, ein Aufbäumen gegen die überall spürbare lähmende Resignation. Das sollte von der Treuhand im Zweifel gefördert, nicht behindert werden. Martin Kempe