Alte Symbole — neue Gewalt

■ West-/Ostberliner Melange und die Straßenkämpfe in Friedrichshain KOMMENTARE

Häuserkampf, Barrikaden in Friedrichshain, nächtlicher Bürgerkrieg — jetzt hat der Berliner Wahlkampf sein Thema (der ja ein West-Wahlkampf mit einer zweiten Ost-Stimme ist); jetzt haben die Kreuzberger Autonomen ihre alte Idee vom Klassenkampf und befreitem Gebiet wieder (der durch den Fall der Mauer und die veränderte Stadtgeographie sich zur Folklore zu verwandeln begann); jetzt hat auch die Polizei ihr Einsatzgebiet und ihr „Chaotenszenario“ und darf den ganzen Erfahrungsschatz ihrer jahrzehntelangen Taktik in der Dritten Welt der Stadt umsetzen. Überhaupt könnte der nächtliche Barrikadenkampf gestern zum Initiationserlebnis für eine gesamtberliner Innenpolitik werden. Mag auch kein Westberliner so richtig von der administrativen Einigung der Stadt oder vom Verkehrsverbund überzeugt sein. Mit der Vorstellung vom Widerspruch zwischen einem großberliner Kreuzberg und einem großberliner Wilmersdorf wird er wohl geistig klarkommen. — Und auch für Ost-Berlin wird Identität gestiftet. Jetzt gibt es die kapitalistischen Gewaltverhältnisse in Originalversion, von denen die SED-Progaganda die Massen vergebens warnte. Jetzt darf man sich als Opfer westlicher Straßenkämpfer fühlen, oder als Sympathisant der Robin Hoods gegen westliche Miethaie. Jetzt hat man den Westen auch im Osten.

Aber leider kann man bei diesem sarkastischen Bild nicht stehen bleiben, weil nicht genug Angst darin ist. Mehr denn je steht bei solchen Ereignissen die Stadt selbst auf dem Spiel, in der die Trennungen wachsen, je mehr sie geeint wird; in der im Westen die Arbeitlosenzahlen sinken und im Osten nach oben schießen; in der im Osten Existenzen zerbrechen, Privilegien sich in starre Isolation verwandeln; in der die Menschen nach vorn in ein neues Leben fliehen, oder gelähmt dem Alten nachstarren. Eine immer sprachloser werdende Exekutive, die die Vereinigung der Stadt als Routinefall behandelt, treibt selbstverständlich den Symbolbedarf der Bevölkerung hervor, die Gesten, Aktionen und einen agierenden Staatsapparat braucht, um Ängste, Hoffnungen und die ganze dunkle Zukunft beherrschen zu können.

Und wer kann ermessen, wieviel ungestillte Wut über vierzig Jahre Realsozialismus, wieviel Demütigungen über die schnelle Einigung und wieviel zielloser Protest über das ungeheure Maß an Unsicherheit, die die neue Zeit mit sich gebracht hat, in solche Auseinandersetzung hineinschießen. In Berlin gibt es weit mehr als das, was man in den ordentlichen Zeiten der Teilung sozialen Sprengstoff nannte. Wer von der heute verbarrikadierten Mainzer Straße in Friedrichshain zum Ku'damm fährt, erlebt nicht mehr den Gegensatz Kreuzberg/ Charlottenburg — er fährt durch die verkleinerte Szenerie eines Europa im Umbruch: Berlin reicht inzwischen von der französischen Grenze bis zur polnischen Grenze.

Sinnlos wäre es, die alten Vorwurfsspiele zu betreiben, zu fragen, wer wann wo eskaliert hat; sinnlos ist es auch, genau auseinander zu dividieren, wieviel Westler im Ost-Straßenkampf gespielt haben und wieweit hier die wirklichen Probleme der Bevölkerung ausgedrückt werden. Bedrohlich ist es, daß die gesamte Politik, das heißt, das politische Bewußtsein derer, die agieren, symbolischen Charakter hat. Da beruft sich der Innensenator auf die korrekte Anwendung der „Berliner Linie“ (Verhandeln mit „Altbesetzern“, Räumen von Neubesetzungen — es gibt da auch einen Stichtag). Aber die „Berliner Linie“ war vor zwölf Jahren ein Kompromiß. Die Beteiligten kannten sich. Die Reaktionen waren, in Grenzen, kalkulierbar — es war eine Linie, die auf politische Auseinandersetzung zielte. Vor allem war sie ein Ausdruck der inneren Zivilisierung der Stadt und — cum grano salis — niemand verblutete mehr innerlich, wenn es zu Gewalttätigkeiten kam. Jetzt aber kennen sich die Kräfte in dieser Stadt keineswegs mehr, niemand kann mit Sicherheit sagen, wer die denkbaren Ansprechpartner sein können. Es ist also barer Unsinn, jetzt, wie es der Innensenat ankündigte, „mit Härte“ eine Linie durchzusetzen, von der ein Teil der Betroffenen mit Sicherheit gar keine politische Vorstellung hat. Politiker müssen in dieser Stadt jetzt vor allem Voraussetzungen schaffen, daß man sich öffentlich streiten kann und nicht Straßenkampfphantasien exekutieren, die mindestens um ein Jahr, d.h. um eine Epoche, veraltet sind. Sie müssen vor Ort sein, und nach Verhandlungspartnern suchen. Dafür sind sie gewählt worden. Klaus Hartung