Grüner Wendeversuch oder Gift

■ Die neue „Abfallbewegung“ und die real existierenden Müllberge DEBATTE

Der metapolitische Debattenbeitrag Winfried Kretschmanns über Sondermüllverbrennung (taz 29.10. 1990) beschäftigt sich zwar vordergründig und ausgiebig mit dieser, hat jedoch die gesamte politstrategische Linie der Grünen im Visier — nicht nur in Baden-Württemberg!

Glücklicherweise ist seine Position bei den baden-württembergischen Grünen noch immer eine extreme Minderheitenposition, die von der breiten Front der pragmatisch in den Kommunen Politik und darunter viel Abfallpolitik treibenden Parteimitglieder, von den vielen in der Abfallbewegung Engagierten, von Radikal-Ökologen und von Linken abgelehnt wird. Andererseits ist für Kretschmanns Position bedauerlicherweise bei den sogenannten Realpolitikern in der Landtagsfraktion und damit auch in deren journalistischem Umfeld noch Unterstützung vorhanden. Von dort aus wurde eine „beispiellose aggressive Kampagne“ (so W.K.) mit demselben Grundtenor des Debattenbeitrags geführt mit dem Ziel, die Andersdenkenden in die Ecke der Dummen zu stellen. Nun wird aber mit dem taz- Beitrag deutlich, daß es um weit mehr geht als um Sondermüll und die Gegnerschaft zu den Verbrennungsanlagen. Es geht um den weiteren Weg der Grünen in die Richtung einer Partei, die

— sich abkoppelt von Widerstand,

— sich entfernt vom Dissens der Oppostionspartei zur Regierung,

— sich zuwendet den immer kleiner und schließlich unerheblich werdenden Schrittchen des poltischen Erfolgs im Konsens mit der regierenden Partei

— sich zuwendet einer technokratischen und zentralistischen Problembewältigung

— sich abwendet sowohl von den Visionen als auch von den drängendsten Notwendigkeiten eines anderen, die Welt erhaltenden oder wenigstens stabilisierenden Produzierens, Konsumierens und Wirtschaftens.

So gesehen darf man gespannt sein, bei welchem Thema Winfried Kretschmann — sollte er bei den Grünen bleiben — erneut ausholt gegen die Mehrheit der Partei. In Sachen Sondermüll jedenfalls ist sein politischer Versuch, ohne Legitimation der Partei durch weitgehende Zugeständnisse in der Standortfrage Gegenleistungen von der Landesregierung zu erhalten, kläglich gescheitert:

— Die Landesregierung hält an ihren Standort- und Verbrennungsplänen fest.

— Ihr und der CDU ist es gelungen, den Spaltpilz in der Grünen-Fraktion wuchern zu lassen: der parlamentarische Widerstand gegen die Abfallpolitik nicht nur in Baden-Württemberg sind die Grünen als unglaubwürdig diskreditiert worden.

— Auf allen Podien und bei jeder sich bietenden Gelegenheit verweisen die Vertreter der Verbrennungsparteien auf den Vorschlag Kretschmanns einer Abfallfabrik, den sie ihrerseits begrüßen!

Ausgerechnet in einem Land, in dem zehntausende für eine andere Abfallpolitik auf die Straße gegangen sind und noch gehen werden, diese Bewegung negieren, ja abqualifizieren zu wollen, zeugt nicht von allzuviel realpolitischem Gespür. Auch — wie in einem Koalitionsgespräch — Verhandlungen in der Interfraktionellen Arbeitsgruppe Sondermüll führen zu wollen, ohne die Machtoption eines Koalitionspartners zu besitzen, erscheint eher blauäugig als pragmatisch; dieser politische Versuch bewegt sich sogar jenseits jeder vom Pragmatismus gezogenen Grenze. Jedes vorlaute und begleitende Erfolgsgeschrei hat nur die CDU immer weiter darin bestärkt, diese Arbeitsgruppe als Instrumentarium zu nutzen zum Einbinden der Oppostionsparteien in die Mitverantwortung für ihre Pläne und Standortvorstellungen. So konnte es der Landesregierung gelingen, an dieser Arbeitsgruppe vorbei eine Verwaltungsvorschrift zur Vermeidung zu erlassen, die es den Giftmüllproduzenten erlaubt, einschneidende Maßnahmen der Sondermüllvermeidung für unzumutbar zu erklären! Damit ist jetzt schon jeglicher — auch der von Kretschmann gewünschten — Vermeidungsoffensive ein Riegel vorgeschoben!

Wie sehr die von Kretschmann angeblich erreichten „beispiellosen Erfolge in der Sondermüllpolitik“ nichts anderes sind, als Teil eines Katz-und-Maus-Spiels der CDU mit dem Grünen-Vertreter zeigt seine eigene Erfolgsauflistung: „Die Landesregierung wird im Bundsrat eine Initiative ergreifen, die den Vorrang der stofflichen Verwertung gesetzlich festlegen soll.“ Warum denn noch eine Debatte um die Verbrennung?

Vorrang der stofflichen Verwertung

Die vorrangige stoffliche Verwertung könnte doch schon kurzfristig die Abfallberge reduzieren, während Verbrennungsanlagen erst frühestens in fünf Jahren einsatzfähig sein könnten. Noch schlimmer wird der Eindruck von der angeblichen „eigentlichen Wende in der Auseinandersetzung“ mit der CDU: in ihrem Antrag, der eine 50 prozentige Vermeidung für möglich hält, fordert sie gleichzeitig das Vorantreiben der Planung der beiden Verbrennungsanlagen für 100 Prozent Sondermüll. Die Schonung der CDU geht schon ziemlich weit, wenn Winfried Kretschmann es unterläßt, auf diese politische Roßtäuscherei aufmerksam zu machen!

Schließlich muß er sich fragen lassen, ob er es wirklich nötig hat, zur Verteidigung seiner Position die Argumente der Verbrennungslobby und -parteien zu übernehmen, wie zum Beispiel die Reduzierung der Problematik der Verbrennung auf die Schadstoffe, die Verharmlosung des Dioxin-Problems („ob eine moderne SMVA tatsächlich eine Dioxinschleuder ist, wird nicht durch die Größe einer Demo entschieden“). Auch wenn Kretschmann meint, das Dioxin-Problem ließ sich allein („und durch sonst nichts“) duch den Ausstieg aus der Chlorchemie lösen, ist er auf dem Holzweg: es verbleibt das allgegenwärtige Kochsalz oder Natriumchlorid, das besonders bei der Abfallverbrennung beinahe 50 Prozent der Dioxine liefert.

Die Alternative lautet demnach: flächendeckende Umstellung der Produktionen und Produkte auf abfallarme Verfahren und Wiederverwendbarkeit. Und hierzu wollen die Grünen die konkreten ersten Schritte sehen; hierzu müssen die gesetzlichen Rahmenbedinungen geschaffen werden, wie eine diesen Prozeß erzwingende Sondermüllabgabe in Höhe von mindestens DM 1.000 pro Tonne mit zeitlicher und mengenmäßiger Progression und ein Vermeidungsgebot (das übrigens bundesgesetzlich existiert).

Den Vermeidungs- wettlauf erzwingen

Auch die Verpflichtung zur Veröffentlichung der erzeugten Giftmüllmengen wird, wenn erst einmal in taz und 'FAZ‘ die Top 100 der Giftmüllerzeuger benannt und aufgereiht zu finden sind, einen „Vermeidungswettlauf“ erzwingen. Die Techniken der abfallarmen Produktion sind meist bekannt — meist wurden sie aus Kostengründen nicht angewendet. Auch die technische Behandlung des vorläufig Nichtvermeidbaren ist in vielen Fällen bekannt und erprobt; sie muß lediglich angewendet werden in zusätzlichen Recylinganlagen.

Wie mit dem vorläufig nicht vermeidbaren und nicht verwertbaren Rest umgegangen werden soll, dies wollen die Grünen in Baden-Württemberg erst dann debattieren, wenn seine Menge nach vollzogener konsequenter Vermeidung und Verwertung feststeht. Aber schon heute kann gesagt werden, daß auch für diesen Rest bei entsprechender chemisch-technischer Optimierung der Vermeidungs- und Verwertungsprozesse keine Notwendigkeit bestehen wird, ihn zu verbrennen; er kann nach sicherer Inertisierung (Einpolymerisation, Einbetonierung, Verglasung) deponiert werden.

Mit einer solchen Vermeidungsoffensive wird erreicht, daß Rohstoffe eingespart, das Klima geschont und eine weiter Verbreitung von Schadstoffen in Luft, Wasser und Boden verhindert wird. Jürgen Rochlitz

Der Autor ist Mitglied der Landtagsfraktion der Grünen in Baden-Württemberg und Chemieprofessor an der FHT Mannheim.