Ortstermin in einer Geisterstadt

Die Stadt Cizre an der türkisch-irakischen Grenze ist nur noch ein Schatten ihrer selbst/ Kurden sind die Verlierer der Golfkrise/ „SS-Dekrete“ und abgebrannte Dörfer/ „Der Staat will ein Land ohne Menschen, Tiere und Wälder“  ■ Aus Cizre Ömer Erzeren

„Was wollt ihr dort? Gott hat diese Gegend und diese Menschen verflucht“, sagt der Polizist mit der Maschinenpistole wenige Kilometer vor den Toren der Stadt. Die kurdische Stadt Cizre, vor wenigen Monaten noch Zentrum des irakisch-türkischen Handelsverkehrs, ist ein Ort des Schreckens. Der Tigris ist verseucht. Die offen in den Fluß geleiteten Abwässer stinken. In der Stadt grassieren Cholera und Typhus. Einst belebte Straßenzüge sind leergefegt. Mehrere zehntausend Menschen haben die Stadt seit dem Beginn der Golfkrise verlassen. Hunger und Arbeitslosigkeit gehören hier zum Alltag.

Einen Ort gibt es in der Stadt, wo sich die Menschen treffen: Das Büro der „Sozialistischen Partei“. Familienangehörige der politischen Gefangenen und andere Kurden führen hier einen Hungerstreik durch. Das Büro, im ersten Stock eines heruntergekommenen Gebäudes, wirkt wie ein Magnet. Es gibt kaum Möbel. Notdürtig sind die Steinfußböden des rund 200 Quadratmeter großen Büros mit Wolldecken ausgelegt. Jedes Zimmer ist voller Menschen, die auf dem Boden liegen. Frauen, Kinder, Männer — man kann sich kaum fortbewegen, ohne auf Menschen treten zu müssen. Über 250 Menschen liegen seit drei Wochen auf den Decken und nehmen keine Nahrung zu sich. „Jeden Tag kommen über 2.000 Besucher. Ich hatte einmal sogar richtig Angst, daß das Gebäude zusammenfällt“, berichtet der Vorsitzende der Sozialistischen Partei in Cizre, Resul Cakar.

„Dies ist ein Solidaritätshungerstreik für die politischen Gefangenen“, will mich ein Funktionär aufklären. Auch wenn die türkischen Zeitungen nicht darüber berichten, sind die Einzelheiten bekannt. 95 Kurden wurden am 7. Oktober aus dem berüchtigten Gefängnis von Diyarbakir in andere Gefängnisse verlegt. Es kam zu Übergriffen der Polizisten und Gendarmen. Zwei Gefangene mußten aufgrund von Verletzungen ins Krankenhaus. Anschließend wurden Razzien in den Zellen durchgeführt, Bücher, Radios und Papier beschlagnahmt. Seit über einem Monat sind die Gefangenen im Gefängnis von Diyarbakir im Hungerstreik. Am 21. Tag des Hungerstreiks entwickelte sich der Protest zu bitterem Ernst. Alle traten in das Todesfasten. Keine Nahrung, kein gelöster Zucker, kein Salz. Seither breiten sich Solidaritätshungerstreiks wie ein Lauffeuer aus.

„Wir haben nichts zu verlieren.“ Mit dem Zeigefinger gestikulierend spricht eine alte Frau. Ayse Vesek stammt aus dem Dorf Bakartal, nahe Dirsekli. Vor zwei Monaten kam das Militär in der Abenddämmerung und vetrieb die Bauern. Ihren Sohn Fadil haben die Soldaten verschleppt, zusammen mit anderen Männern. Er sitzt nun im Gefängnis von Diyarbakir. Die Häuser, die Felder, die Weidgründe wurden abgebrannt. „Die Pferde und Esel mußten wir dort lassen, ich habe gerade noch 30 Schafe mitgenommen“, sagt Ayse Vesek. Die Schafe sind in Cizre verkauft worden, um die Anfangszeit in einer der Elendsbaracken zu überleben. Nergiz, ein 8jähriges Mädchen, ist seit vier Tagen hier: „Auch ich bin im Hungerstreik zusammen mit meiner Großmutter.“ Ein Mann, vor kurzem aus der Polizeiwache in Mardin enlassen, zeigt seine Folterflecken am Körper. Auch er ist im Hungerstreik.

Viele der Hungerstreikenden sind erst seit wenigen Monaten in der Stadt, Opfer von Terror und Vertreibung. Doch der staatliche Terror hat an Wirksamkeit eingebüßt. In einem Raum singen Jugendliche Kampflieder im verbotenen Kurdisch: „Ergreift Besitz von euren Bergen“, „Kurdische Jugendliche, greift zu den Waffen, rettet euer Vaterland“, „Wir werden die Sklaven im Knast Diyarbakir befreien“. Offener kann man die Sympathie für die kurdische Guerillabewegung PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), die seit 1984 für ein unabhängiges Kurdistan kämpft, kaum bekunden. Überhaupt spielt sich Politik nur im Spannungsfeld zwischen PKK und Staat ab. Keine legale Organisation kann Politik betreiben, ohne für eine Seite Partei zu ergreifen. Im Zweifelsfall heißt das immer: Für die kurdische Nationalsache, für die Befreiung, für die PKK. Die Jugendlichen stimmen Lobpreisungen an auf Stalin, den „Erleuchter des Sozialismus“.

Eine kleine Oase inmitten des Dreckes und Schmutzes von Cizre: Das Anwaltsbüro von Orhan Dogan. Ein Brunnen steht in dem mit Blumen und Pflanzen ausgeschmückten Raum, in Käfigen summen Kanarienvögel, und eine Klimaanlage schafft erträgliche Luft. Befragt nach der Arbeitslosigkeit in Cizre, spottet Dogan: „Die Nachfrage ist groß. Wir Rechtsanwälte haben keine Arbeitslosigkeit zu befürchten.“ Von insgesamt 38 Dörfern um Cizre wurden 30 zwangsevakuiert. In den Dörfern des benachbarten Sirnak sieht die Bilanz nicht viel anders aus. „Der Staat will ein Land ohne Menschen, Tiere und Wälder.“ Dogan zeigt uns Fotos von evakuierten Dörfern, die anschließend abgebrannt wurden: „Dies ist die Lage der Menschenrechte.“ Selbst die Regierung hat es nicht mehr nötig, die Situation zu vertuschen. Mit den berüchtigten „SS-Dekreten“ — von „Sürgün“ (Verbannung) und „Sansür“ (Zensur) — vom April dieses Jahres wurden verfassungsmäßig garantierte Rechte in den kurdischen Gebieten aufgehoben. Und im August teilte die Türkei dem Europarat offiziell mit, daß sie Teile der europäischen Menschenrechtskonvention außer Kraft gesetzt hat.

Einmal hat Dogan geklagt. In 43 Häusern des Dorfes Sapaca bei Uludere lebten 550 Menschen, bis sie von dem Militär vertrieben wurden. Zwar kann man seit Verabschiedung der „SS-Dekrete“ nicht mehr gerichtlich gegen Evakuierungen vorgehen, doch Dogan wollte im Namen der Bauern eine Entschädigung. Das Gericht verfügte eine Ortsbesichtigung, um die Höhe der Entschädigungssumme festzustellen. Zum Ortstermin kam es nie. Vor einer Woche brannte das Militär das ganze Dorf zu Schutt und Asche nieder.

„Wir profitieren von der Golfkrise“, verkündet der türkische Staatspräsident Turgut Özal. Er meint: Es werden Milliarden an Militärhilfe eingesackt. Doch der türkische Staat profitiert auch in einem anderen Sinn. Im Schatten der Golfkrise macht die Türkei, Verbündeter der USA und des Westens, der kurdischen Bevölkerung den Garaus. Die Kriegsgefahr war die Gelegenheit, ganze Dörfer, die der Unterstützung für die PKK bezichtigt wurden, von der Landkarte auszuradieren. „Die Region Botan wird entvölkert“, lautet der Bericht einer Delegation von Funktionären des Menschenrechtsvereins, der Erdölarbeitergewerkschaft, der „Sozialistischen Partei“ und der „Arbeitspartei des Volkes“. Er enthält Augenzeugenberichte über zerstörte Dörfer, hinterrücks erschossene Bauern und Folterungen. In Balveren traf die Delegation auf geflüchtete Bauern, die nun in Zelten leben. Fatma Kartal berichtete: „Die schwangeren Frauen mußten in dem Dorf stundenlang tanzen, um eine Fehlgeburt herbeizuführen. Nachts schossen sie auf unser Dorf. Brennholz, Eier und unser Brot wurden uns weggenommen.“

Im Fünf-Sterne-Hotel in Nezirhan auf der Landstraße nach Diyarbakir tummelten sich einst Hunderte Touristen, um die Freudenseiten von Kurdistan zu erleben. Heute gleicht die Hotelanlage einer Geisterstadt. Keine Gäste — die Swimmingpools, die türkischen Bäder, die Bars sind leer. Von 300 Beschäftigten sind noch ein Dutzend übriggeblieben. Viele sind in den türkischen Westen gezogen, in die großen Städte, wo sie ein kurdisches Subproletariat bilden. Eine 16jährige Schülerin erzählt von ihrer Schule. Der Lehrer beschimpfte sie: „Was willst du lernen, studieren? Anschließend gehst du doch sowieso in die Berge zu den Terroristen.“