Nach den ersten Räumungen:
: Randale und Häuserkampf in Ost-Berlin

■ Autonome Besetzer verbarrikadierten sich in der Nacht zum Dienstag in der Mainzer Straße im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain: Drei Häuser im Ostteil der Stadt waren geräumt worden. Insgesamt gibt es dort 130 besetzte Häuser, 18.000 Wohnungen stehen leer.

Buchstäblich über Nacht hat Berlin eine neue Sehenswürdigkeit erhalten: die Mainzer Straße im östlichen Bezirk Friedrichshain. Hunderte pilgerten am Dienstag vormittag zum Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen 500 Hausbesetzern und mehr als 1.000 Polizisten. Die Mainzer Straße war durch meterhohe Barrikaden und mehrere Gräben von einem halben Meter Tiefe zu einem polizeifreien Gebiet gemacht worden, in zwei Nebenstraßen lagen Bauwagen, Container, ausgebrannte Autowracks und Sperrmüll auf der Fahrbahn.

Befreites Gebiet um die Mainzer Straße

Zum Teil vermummte Besetzer kontrollierten die „Eingänge“ der besetzten Straßenzüge. Beinahe unberührt vom Publikum wärmen sich unter schwarzer Piratenflagge einige Vermummte am Lagerfeuer auf der Straße. Andere jagen Reportern ihre Filme ab und vertreiben mit leeren Flaschen und Steinen immer wieder Kameraleute. „Keine Fotos!“ Ein Besetzer hebt die Hände vors Gesicht. Am Tag danach war von den grünen Ordnungshütern rund um die Mainzer Straße keine Spur.

Der Geruch von verbranntem Öl zieht noch immer durch die Straße. Ein Scherbenteppich erinnert an die Kämpfe der letzten Nacht, die bis in die Morgenstunden dauerten. In Fetzen gerissene Spruchbänder an den Simsen der reich verzierten, aber heruntergekommenen Fenster — Sinnbild des Protestes der bisher als „sanft“ geltenden Ostberliner Hausbesetzerszene.

Pflastersteine, Möbelbruch, Haushaltgerät, Mülltonnen, Einkaufswagen und Kartoffelhorden gehören zu den Überresten einer für Ost-Berlin bisher ungewöhnlichen Auseinandersetzung. Heftige Debatten toben vor den Häusern. Die Meinungen der Anwohner gehen bis dahin, einen russischen Panzer herbeizuwünschen: „Ich haben ja immer gesagt, das ist zuviel Demokratie.“ Viele der Anwohner, die zum ersten Male Häuserkampf-Randale erlebt haben, fordern härteres Vorgehen der Polizei. Einige Familien waren mit dem Notdürftigsten fluchtartig ausgezogen.

„Wir brauchen mehr Sozialwohnungen. Da müßt ihr noch viel mehr Druck machen“, unterstützt ein 35jähriger Passant den Protest der Hausbesetzer. Ein Älterer entgegnet scharf: „Ihr faules Pack, habt ihr nichts besseres zu tun als hier herumzulungern?“ „Wegen eines verbrannten Autos regst du dich auf“, kontert einer der Hausbesetzer. „Dabei erfrieren hier jedes Jahr auf der Straße sechs Menschen.“ Ein 25jähriger hält eine russisch beschriftete Gaspatrone in der Hand. „Einem Kumpel hat sie fast den Fuß abgerissen“, ruft er, so als wolle er rechtfertigen, was in der letzten Nacht in der Mainzer Straße passiert ist. Von den Passanten, die sich um ihn scharen, ergreift aber keiner Partei. Der Schock des Erlebten sitzt noch zu tief.

Die alternative Szene artikuliert sich vor gähnenden Fensterhöhlen mit Fahnenresten der untergegangenen DDR und Spruchbändern: „Die Häuser denen, die drin wohnen", „Bullen raus! Wir bleiben“, „Schaut nicht weg! Wehrt Euch! Greift ein!“

Montag früh: Drei Häuser werden geräumt

Begonnen hatten die Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Hausbesetzern der Ostberliner Mainzer Straße bereits Montag früh. Die Nachricht, daß drei besetzte Häuser in Lichtenberg und im Stadtteil Prenzlauer Berg mit Polizeigewalt geräumt wurden, mobilisierte die „Szene“ um die Mainzer Straße. Der dort lebende harte Kern der Hausbesetzer rechnet seit dem Abbruch der Verhandlungen mit dem Magistrat selbst täglich mit einer Räumung ihrer zwölf Häuser. An der Einmündung zur sechsspurigen Ausfahrtstraße, der Frankfurter Allee, errichteten die Besetzer eine Straßensperre aus Gerüststangen, Müllcontainern und Sperrmüll. Die anrückende Polizei versuchte, die Befestigungen zu beseitigen. Nach Polizeiangaben wurde sie mit Steinen und Molotow-Cocktails, die auch aus den oberen Etagen geworfen wurden, empfangen. Nach Darstellung der Betroffenen waren diese Kampfmittel die Reaktion, als ohne Vorwarnung gepanzerte Räumfahrzeuge, Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt wurden. Die Polizeibeamten zielten mit Gasgranaten auf offen stehende Fenster.

Montag nacht: Befriedungsversuche

Eine Entspannung der Situation schien sich am Montag nachmittag anzukündigen, als der Friedrichshainer Bezirksbürgermeister Helios Mendiburu (SPD) der Polizei anbot, mit den Besetzern zu verhandeln. Den Vertretern der besetzten Häuser versicherte er, daß von der Polizei nicht geplant sei, die Mainzer Straße zu räumen und forderte sie auf, ihre „Kampfhandlungen“ einzustellen. Im Gegenzug würde sich die Polizei zurückziehen.

Die Besetzer berichten, daß ein Räumfahrzeug der Polizei von der anderen Seite der Straße heranrollte und so den „Kampf“ von neuem eröffnete, während der sichtlich erleichterte Mendiburu den aufgebrachten Nachbarn den Polizeieinsatz zu erklären versuchte. Nachdem diese Aktion zur Räumung der Barrikaden durch die Polizei fehlschlug, setzte ein regelrechter Grabenkrieg ein. Besetzer stürzten Baufahrzeuge um und stoppten und zerstörten eine Straßenbahn, um so den Räumfahrzeugen die Zufahrt von hinten zu versperren. Andere griffen von den Dächern die immer wieder anrückende Polizei mit Steinen an.

In der Nacht machte das Wort von der „Berliner Hafenstraße“ die Runde. Über Stunden hallten die Abschüsse von Tränengaspatronen durch die Straßen. Signalmunition zischte durch die beißenden Nebelschwaden, Polizeischeinwerfer leuchteten Dächer ab. Die Flammen von platzenden Molotow-Cocktails warfen flackerndes Licht in die gespenstische Szenerie.

Alarmiert durch die Nachrichten aus der Mainzer Straße trafen im Laufe des Tages Politiker verschiedenster Parteien und Organisationen auf dem Kriegsschauplatz Mainzer Straße ein und versuchten, zwischen Besetzern und Polizei zu vermitteln. In einer Erklärung heißt es: „Müssen erst Tote zu beklagen sein, bevor allen klar wird, daß nur durch den Abzug der Polizei bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen vermieden werden können?“

Innensenator kündigt härteres Vorgehen an

Innensenator Pätzold kündigte am Dienstag nachmittag ein härteres Vorgehen der Polizei gegen die Gewalttäter an: „Wir werden es nicht zulassen, daß sich die Gewalt in dieser Gegend fortsetzt.“ Dies seien Polizei und die Innenverwaltung schon allein den Anwohnern in der Mainzer Straße schuldig. Pätzold betonte, daß nach der Berliner Linie keine weitere Neubesetzung von Häusern zugelassen würden. Olaf Kampmann