»Vor einem Scherbenhaufen«

■ Wird die AL das Koalitionsbündnis wenige Wochen vor der Wahl platzen lassen?/ AL-Fraktionschefin Renate Künast wirft SPD vor, die Linie der Deeskalation verlassen zu haben

Bürgermeister Momper übte gestern scharfe Kritik am kleinen Koalitionspartner: Die AL habe sich wieder einmal aus der politischen Verantwortung gestohlen. Nach AL-Angaben sind jedoch weder ihre Senatorinnen noch die Fraktion von den bevorstehenden Häuserräumungen informiert worden. Für die AL stellt sich wieder einmal die Koalitionsfrage. Heute will die Fraktion über die Fortführung der Koalition beraten, nachdem gestern bereits Christian Ströbele die AL aufgefordert hat, das Bündnis zu beenden. Die taz sprach mit der AL-Fraktionschefin Renate Künast.

taz: Was sagen Sie zum Vorwurf Mompers, die AL stehle sich aus der Verantwortung?

Renate Künast: Das stammt wieder einmal aus der Abteilung »einfaches Weltbild«. Es ist ganz im Gegenteil so, daß die SPD uns ganz bewußt aus der Sache ausgegrenzt hat. Wir wurden weder vorher über die geplanten Aktionen informiert noch wurde unser Angebot, in dem Konflikt zu vermitteln, weiter beachtet. Wir hatten schon in der Nacht zu Dienstag Kontakt mit den Besetzern und haben zu diesem Zeitpunkt versucht, mit Herrn Pätzold wegen einer Vermittlung in Kontakt zu treten. Es war die SPD, die die Linie der Deeskalation verlassen hat, indem politische Lösungen, etwa Gespräche mit den Besetzern, keine Rolle spielten, nur auf die Polizei gesetzt wurde.

War die AL über die Räumung der ersten drei Häuser vorab informiert?

Nein. Es gab die alte Vereinbarung, daß wir gerade in solchen Fällen vorher informiert werden, weil wir ja in der Vergangenheit oft die Möglichkeit hatten, durch unsere Kontakte zu vermitteln. All dies gilt in diesem Fall nicht.

Sind Sie vorgestern über die bevorstehende Räumung der Mainzer Straße unterrichtet worden?

Nein. Wir hatten uns am Dienstag noch während der Sitzung der Landesregierung darum bemüht, Gespräche in Gang zu bringen. Es gab dann auf unsere Intervention hin ein Gesprächsangebot der Stadträte Thurmann und Krüger in Richtung Mainzer Straße. Fatal ist, daß von dieser Möglichkeit dann kein Gebrauch gemacht wurde, denn das war immer die zwischen uns verabredete Strategie der Deeskalation.

Pätzold argumentiert, daß die Polizei räumen mußte, da ein Strafantrag gestellt worden war.

Das stimmt einfach nicht. Die Polizei mußte handeln, aber sie mußte nicht gleich räumen. Nichts dergleichen ist versucht worden, die Verhältnismäßigkeit ist überhaupt nicht berücksichtigt worden. Politik hat doch die Verantwortung, über den Tellerrand hinaus zu gucken und politische Lösungen für all die Probleme zu suchen, die es jetzt seit der Maueröffnung in dieser Stadt gibt. Wir stehen jetzt vor einem Scherbenhaufen, weil keine politische Lösung versucht wurde, und die Gewaltspirale sich immer weiter drehen wird.

Stichwort Scherbenhaufen: Wie steht es um die rot-grüne Koalition — ist jetzt nicht endgültig der Zeitpunkt gekommen, an dem die AL sagt: Bis hierher und nicht weiter?

Wir werden uns heute erst einmal mit den aktuellen Ereignissen beschäftigen müssen und uns um die angesetzte Demonstration kümmern. Auf jeden Fall haben wir einen erhöhten Gesprächsbedarf, und die einzelnen Gremien der AL werden sich in diesen Tagen mit der Koalitionsfrage beschäftigen. Es wird sicher sehr strittig diskutiert...

Kündigt die AL das Bündnis drei Wochen vor der Wahl auf?

Es ist vieles denkbar — in Wirklichkeit aber hat sich die SPD vom Bündnis verabschiedet. Interview: Kordula Doerfler