Vom Kehlkopf abwärts

Das Hörspiel als stimmlich-akustisches Erlebnis/ Porträt des Hörspielmachers Jörg Jannings  ■ Von Christian Deutschmann

Ins Kino gehen, das ist auch für Leute, die sonst auf ihr kulturelles Renomee bedacht sind, längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Auch vor der Glotze zu sitzen, ist nicht mehr mit jenem Makel behaftet wie noch in den sechziger und siebziger Jahren, als viele Leute es noch chic fanden, keinen Fernseher zu besitzen. Und Radio — das ist halt jenes Gedudel, das man hin und wieder abstellt, nachdem man beispielsweise beim Frühstück mit dem Wortstaccato irgendeines Muntermachers versorgt worden ist. Das Hörspiel als stimmlich-akustisches Erlebnis hat es da schon viel schwerer. Es scheint die letzte Bastion eines in die Mediengeschichte mit unsichtbaren Lettern eingeritzten Kunstanspruchs zu sein. Von seinen Repräsentanten oft genug gegen den Einschaltquotenfetischismus der beamteten Medienhäuptlinge verteidigt, hat es nur vereinzelt Siege davongetragen.

Einer derjenigen, die ihm seit Beginn seiner Karriere treu geblieben sind, ist der Regisseur Jörg Jannings, der seit 1981 die — wie es so schön beamtenhaft heißt — „künstlerische Wortproduktion“ beim RIAS leitet. Gestern ist er 60 geworden. Kennern der Hörspielszene (doch wer ist das schon?) ist sein Name längst ein Begriff. 1957 kam er zum RIAS, nachdem er bei der DEFA gelernt und mit Joris Ivens Filme gemacht hatte. Als es ihm dort „ideologisch nicht mehr schmeckte“, ging er in den Westen, um als Filmkritiker und dann auch als Filmemacher zu arbeiten. Mit dem RIAS ging er dann gleich eine lebenslange Ehe ein. An der Tür seines schwer zu findenden Büros steht immer noch die irreführende Aufschrift: „Besetzungsbüro“.

Stolz und mit deutlichem Seitenblick auf Kollegen, die ein Verhackstücken aufgenommenen „Materials“ bevorzugen, bezeichnet sich Jannings als einen „Schauspielerregisseur“. Vielleicht schlägt da jener Onkel Emil Jannings durch, den wir als unwürdigen Greis, die tolle Lola der Marlene Dietrich umhechelnd, aus dem Kinohit Der blaue Engel von Josef von Sternberg in Erinnerung haben. Vielleicht ist es aber auch nur „alte Schule“ einer Generation, für die das Zeichen der Solidität großer Hörspielkunst immer noch in gut geführten Stimmen besteht.

Dem Onkel gegenüber gibt es natürlich Bewunderung, aber auch leise Distanz. Die beiden Brüder — Jannings Vater Walter und Emil — verstanden sich zwar, doch schienen auch Welten dazwischen gelegen zu haben. Jannings heute: „Mein Vater hatte andere Ansichten als mein Onkel. Der Emil war kein Nazi, aber ein Deutschnationaler.“ Zusammen mit Gründgens, Heinrich George, Werner Krauß und anderen Theatergrößen blieb Emil Jannings, der mit dem Aufkommen des Tonfilms 1929 aus Hollywood in den sprachlichen Mutterschoß zurückkehrte, in Hitler- Deutschland, während andere verjagt wurden. Jannings, der den Onkel aus der Sicht des Heranwachsenden in Erinnerung hat: „Es sind eben Schauspieler. Ich denk' da anders, weil ich nicht nur Schauspieler bin und so karrieregeil. Warum sind die hiergeblieben und haben sich benutzen lassen? Ich denke, es war auch Angst.“

Der Schauspieler vor dem Mikrofon: ein oft unrühmliches Kapitel der Hörspieldramaturgie. Jannings hat hier eine besondere Methode entwickelt, die er zunächst mit einem süffisanten Hieb gegen Kollegen verdeutlicht, für die immer noch das „Ablesenlassen“ gilt: „Vom Kehlkopf abwärts ist der Schauspieler bei denen nicht mehr interessant.“ Jannings holt seine Darsteller hinter der Glaswand hervor, die den Regieraum vom Studio trennt. Er entführt sie in Wohnungen, auf die Straße, auf eine Bank inmitten des Verkehrslärms, in das Gewirr stillgelegter S-Bahn- Gleise am Bahnhof Gleisdreieck. Dort erreichen sie jene Echtheit des Sprechens, die später am Lautsprecher noch durchschlägt. Für George Taboris Mutters Courage — das Stück spielt in einem Viehwaggon während einer Deportation von Juden nach Auschwitz — ließ er die Schauspieler im Studio eine Schlange bilden, die sich übereinanderwälzend fortbewegt und dabei sprach. So und anders kommt bei ihm „körperliches Sprechen“ zustande, das für ihn ein Ideal realistischen Hörspiels darstellt.

Seiner Zusammenarbeit mit Tabori entsprangen bis heute Hörspiele, größtenteils Originalarbeiten für den Rundfunk, denen erst später Theaterfassungen folgten. Tabori selber sprach dabei regelmäßig mit. Mit ihm führt Jannings „eine gute Ehe“. Er ist „mein Feund und mein Lehrer“. Natürlich sind Stücke wie Mutters Courage und auch Mein Kampf starker Tobak für einen Rundfunk, der immer noch den brav seinen Feierabend genießenden Hörer vor Augen hat. Ohne in die heroische Pose des Kulturhüters zu verfallen, verteidigt Jannings seinen Autor: „Es ist nicht gewagt. Dann war Ibsen mit seinen ersten Stücken auch gewagt. Ich denke, das ist ein Vorurteil und hat mit Angst zu tun. Jedes Nachdenken über diese Dinge ist ja mit Schmerz verbunden. Und den verdrängt man lieber. Zum Beispiel das Nachdenken über einen Hitler in jedem von uns.

Inzwischen selber eine Berliner Institution, ist Jannings vom Kampf mit der Institution Rundfunk geprägt. Von „Killern“ spricht er, wenn er die meint, die das Hörspiel in den „dritten Hinterhof“ verbannt haben, wo es, möglichst zu später Nachtzeit, dem Dudelfunk in der Bel Etage nicht in die Quere kommen soll. Doch gibt es auch kleine Triumphe, wie kürzlich bei der öffentlichen Vorführung von März Berlin im RIAS-Studio. Da beglückte ein anonym bleibender Herr von offenbar hohem Rang in der Rundfunkhierarchie die Anwesenden mit seinen eigenen Visionen von einem „populären“ Hörspiel mit reinlicher Scheidung von Gut und Böse, um dann anzudrohen, daß Produktionen, die diesem Schema nicht folgen wollen, ins Spätprogramm verbannt werden sollen. Hatte er geahnt, daß er damit in ein Wespennest greifen sollte? Wie auf ein Kommando fielen die vorher noch sittsam Diskutierenden über ihn her. Am Ende stand ein groteskes Bild: ein Rundfunkbeamter, der verzweifelt einen von Soziologen ermittelten Hörergeschmack gegen wirkliche Hörer zu verteidigen suchte. Jannings hält weiter an seinem altmodisch erscheinenden Ideal von einem „erzählenden“ Radio fest, das er in den schlichten, aber folgenreichen Satz kleidet: „Einer spricht, und einer hört zu.“

Kostproben seines Könnens und das vieler KollegInnen gibt es derzeit bei der „Woche des Hörspiels“ in der Akademie der Künste zu erleben.