Kälberblut für den designierten Master

■ Boris Becker vom „Bayerndoktor“ fitgespritzt

Frankfurt/Main (taz) — Geweint hätte er nicht, meinte Stefan Edberg aus Västervik in Schweden, wenn sein hartnäckigster Konkurrent um den Sonnenplatz auf der Weltrangliste, Boris Becker, vorzeitig das Handtuch geworfen hätte. Edberg hatte gerade dem Spanier Emilio Sanchez mit 6:7, 6:3 und 6:1 zwei kostenlose Lehrstunden im Fach „Matchtiming“ erteilt. Und Sanchez war ein gelehriger Schüler: „Wer gewinnen will, muß halt mindestens zwei Sätze lang gut spielen“ (Sanchez). Daß der 25jährige aus Barcelona dem Weltranglistenführer in einem großartigem Kampfspiel den ersten Satz „abnehmen“ konnte, führte Edberg auf der obligatorischen Pressekonferenz bei Mineralwasser — der Schwede ist militanter Alkoholgegner — auf seine mangelnde Spielpraxis auf dem himmelblauen „medium-fast-carpet“ in der Frankfurter Festhalle zurück. Der sei nicht leicht zu spielen gewesen — „aber nach dem ersten Satz hatte ich alles unter Kontrolle“ (Edberg).

Mit 50 Punkten mehr auf dem Computerkonto und um 50.000 US-Dollar reicher, nahm Stefan Edberg am Dienstag gegen 21 Uhr mit Gelassenheit zur Kenntnis, daß Boris Becker nun doch gedenke, das Masters zu spielen. Mit Kälberblutextrakt hatte ihn der „Bayerndoktor“ Müller-Wohlfahrt fitgespritzt. Das ungläubige Staunen der versammelten Fachpresse über die schnelle Wunderheilung der diagnostizierten gerissenen Muskelfaser im Oberschenkel des 22jährigen Monegassen konterte Boris mit der denkwürdigen Einlassung, daß er „eben verschieden“ sei: „Bei mir geht alles schneller.“

Daß B.B. die in der Mainmetropole versammelten Sportjournalisten aus allen Erdteilen zu einem Zeitpunkt zur Pressekonferenz in die Katakomben der Festhalle rief, als auf dem Center Court Paradiesvogel Andre Agassi in grellgrünen Radfahrerhosen und mit pinkfarbenem Schläger Pete Sampras zeigte, wer in den Staaten die Nummer eins im Profi(t)tennis ist (6:4, 6:2), wurde allgemein als „unfeiner Akt“ gewertet. Agassi verzichtete nämlich auf Mätzchen und Kaspereien und spielte „lediglich“ erstklassiges Tennis, was von seinen Fans auf den Rängen mit frenetischem Beifall honoriert wurde. Wunderkind Sampras, der mit knapp 19 Jahren überraschend die US-Open gewonnen und dabei Agassi vom Platz gefegt hatte, war in Frankfurt chancenlos.

Ebenso souverän wie Agassi seinen US-amerikanischen Konkurrenten, schlug Altmeister Ivan Lendl (30) den Österreicher Thomas Muster. Scrabble-Maniac Lendl dürfte in dieser Form einer der heißesten Anwärter auf die ATP-Königskrone aus Kristall und auf die maximale Gewinnsumme von einer Million US-Dollar sein, die noch bis Sonntag in Frankfurt ausgespielt wird.

Gestern wartete in der Festhalle dann alles auf den ersten Auftritt von Boris Becker in der Tennisareana unterm gigantischen Messeturm. Sein Gegner hieß Andres Gomez und kommt aus Guayaquil in Ecuador. Der 30jährige Gewinner der French-Open wollte eigentlich schon 1989 — nach einer Niederlagenserie — aus dem „Tenniszirkus“ aussteigen, doch nach dem überraschenden Endspielsieg in Paris über den zehn Jahre jüngeren Agassi hat es den als Sonnyboy geltenden Südamerikaner noch einmal gepackt: „Ich fühle mich stark genug, um zu gewinnen.“ Falls Beckers kälberblutgetränkte Muskelfaser wieder reißen sollte, steht sein Trainingspartner Goran Ivanisevic, gegen den der Leimener am Dienstag ein „Trainingsspielchen“ (Becker) absolvierte, als Ersatzmann auf der Matte. Aber zumindest bei Redaktionsschluß dieser Ausgabe war „uns Boris“ ja nicht „verschieden“, auch wenn er so verschieden ist. Klaus-Peter Klingelschmitt