Bürger statt Diplomaten

■ Plädoyer für die Einmischung in den KSZE-Prozeß EUROFACETTE

Der KSZE-Gipfel in Paris am Montag wird die offizielle Feier des Endes des Kalten Krieges sein. Die westlichen Regierungen werden am Triumph der neugewählten Regierungen Ost- und Mitteleuropas teilhaben und die Lorbeeren für die Revolutionen von 1989 einheimsen wollen, obwohl diese in Wirklichkeit der Bevölkerung Osteuropas zustehen. Das Ziel des Gipfeltreffens ist es, den offiziellen Helsinki-Prozeß zu institutionalisieren. Dies wird in einer bescheidenen Form stattfinden. In Prag wird ein kleines Sekretariat eingerichtet, man wird ein Konfliktvermeidungszentrum sowie ein Büro zur Beobachtung von Wahlen eröffnen.

Aber ergibt dies schon ein neues europäisches Sicherheitssystem? Rückt dadurch das Europa näher, für das die Völker Osteuropas die Revolution gemacht haben? Diese bescheidenen Institutionen werden kaum in der Lage sein, eine ganze Reihe von neuen Spaltungen in Europa zu überwinden, die aus wirtschaftlichen und ökologischen Problemen herrühren; nationale, ethnische und religiöse Konflikte, Rassismus, Antisemitismus, Xenophobie, Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit. Vor allem werden sehr viel mehr Anstrengungen auf die Integration Westeuropas einschließlich der Konstruktion eines Systems westlicher Sicherheit verwandt werden. Die Europäische Gemeinschaft hat mit den Vorschlägen für eine beschleunigte Währungsunion einen neuen Anstoß erhalten. Die Westeuropäische Union hat ihre Aufgaben erweitert, als sie mit der Koordinierung der westeuropäischen Reaktion auf die Golf-Krise beauftragt wurde. Selbst die Nato, die ein neues strategisches Konzept entwickelt, ist mindestens noch so lebendig wie die vorgeschlagenen KSZE-Institutionen. Es besteht die reale Gefahr einer neuen Teilung Europas, mit der Grenze zwischen einem reichen konsumorientierten Westen und einem armen, ökologisch zum Tod verurteilten Osten, der von verschiedensten fundamentalistischen Konflikten und der Tendenz zu autoritär-populistischen Regierungen bedroht ist. Mit der Ausnahme von Deutschland wird Osteuropäern nach wie vor der Westen verschlossen sein. Deswegen müssen Individuen und regierungsunabhängige Gruppen eine Verantwortung für die europäische Integration übernehmen, in der gleichen Weise wie die Friedens- und Demokratiebewegungen in Ost und West eine Verantwortung für die Beendigung des Kalten Krieges in den 80er Jahren übernommen haben.

Die „Helsinki Bürgerversammlung für Frieden und Demokratie“, die am 19. Oktober in Prag gegründet wurde, bedeutet die Institutionalisierung des Helsinki-Prozesses von unten. Dieses Projekt entwickelte sich aus dem Dialog zwischen verschiedenen Friedens- und Demokratiebewegungen, vor allem der Charta 77 in den 80er Jahren. Nun wird dieser Dialog die Form einer permanenten Einrichtung annehmen, die Individuen, sozialen Bewegungen, Institutionen wie Kirchen und Gewerkschaften helfen, Netzwerke zu etablieren, Konferenzen, Treffen und Kampagnen zu organisieren, die zu einer demokratischen Integration Europas beitragen. Es war für mich sehr bewegend zu sehen, wie Rumänen, Ostdeutsche, Litauer, Aserbaidschaner, Ukrainer, Schotten, Waliser, Iren, Kanadier und andere schließlich, nach all diesen Jahren, sich treffen und miteinander debattieren konnten. Obwohl verschiedene Erfahrungen und ein unterschiedliches Umgehen mit Sprache zu Mißverständnissen führten, gab es eine große Bereitschaft zum gegenseitigen Verstehen. Mit großer Erleichterung wurde zur Kenntnis genommen, daß es tatsächlich in beiden Hälften Europas Menschen gibt, die sich mit den Problemen von Armut, Umweltverschmutzung und Abrüstung beschäftigen und gegen jegliche Form des Fundamentalismus auftreten.

Es gibt Menschen im Osten, die nicht nur Konsumenten sein wollen und die skeptisch sind gegenüber der Ideologie des Neoliberalismus. Die Versammlung hat ein ständiges Sekretariat in Prag. Außerdem gibt es nationale Komitees in den meisten der KSZE-Mitgliedsstaaten. Die Bürgerversammlung wurde von Präsident Havel eröffnet und genießt die Unterstützung der tschechoslowakischen Regierung. Sie wäre nicht zustande gekommen ohne die Mitwirkung von Einzelnen wie Jiri Dienstbier und Jaroslav Sabata, beide heute Minister. Bedeutet ihre Teilnahme nicht schon, daß die Versammlung keine Bürgerbewegung mehr ist? Die Versammlung verkörpert die Spannung zwischen Politik und Antipolitik. Ist die Versammlung eine Lobbyorganisation für den Helsinki-Prozeß, etwas, das auf die offizielle Politik einwirken will, das die Politik von oben her beeinflussen will, um sicherzustellen daß die KSZE wirklich zu einer substantiellen Organisation wird? Oder ist sie ein paneuropäisches Bürger-Netzwerk und Ausdruck einer europäischen Zivilgesellschaft? Ich hoffe, daß sie beides sein wird und die Spannung zwischen Politik und Antipolitik eine kreative ist, die uns in die Lage versetzt, neu über die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft nachzudenken. Der Bürgerversammlung geht es um Demokratie, dabei aber nicht um die Wahl von Repräsentanten, sondern darum, Bürger mit mehr Macht über eine ganze Reihe von politischen Fragen und Problemen auszustatten. Sie soll ferner ein Forum sein für eine öffentliche Debatte, die sich mit Fakten, Ideen und Werten und nicht nur mit Slogans, Symbolen und Vorstellungen beschäftigt. Dies meinte auch Havel mit seiner Aufforderung, „die Wahrheit zu sagen“. Die Versammlung muß, wie es ein Teilnehmer formulierte, das „Gewissen Europas“ werden. Mary Kaldor

Die Autorin war Sprecherin der britischen Friedensbewegung und ist Mitinitiatorin der KSZE- Bürgerversammlung