Rassismustheorie im Elfenbeinturm?

Dreitägiges Colloquium zu Rassismus und Rechtsextremismus/ Die Experten erteilen ökonomistischen Erklärungsansätzen eine Absage/ Rassismus als „irdischer Blitzableiter“ für Entbehrungen und Entsagungen/ Keine Vermittlung von Theorie und Praxis  ■ Aus Bonn Bernd Siegler

Rassismus gilt in vielen europäischen Ländern als Verbrechen, in Deutschland gibt es dagegen keine speziellen Anti-Rassismus-Gesetze. Das Grundgesetz geht im Artikel 3 selbst von der Annahme aus, daß es „menschliche Rassen“ gibt, was wissenschaftlich längst nicht mehr zu halten ist. Der Begriff „Rassismus“ ist aus der öffentlichen Diskussion verbannt. Er wird im Wort „Ausländerfeindlichkeit“ verschleiert. Kein Wunder, daß die empirische und theoretische Erforschung des Rassismus und des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern in den Kinderschuhen steckt. Mit dem dreitägigen Seminar „Aus der Mitte der Gesellschaft“ wollte das „Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung“ (DISS) in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung einen Anfang starten, dieses Defizit auszugleichen.

Rassismus bewege zwar die Gemüter, konstatierte Siegfried Jäger, Sprachwissenschaftler von der Gesamthochschule Duisburg, im Vergleich zu seiner tatsächlichen Verbreitung und Verankerung werde er jedoch nur selten offen und direkt geäußert. „Rassistisches Denken versteckt und verkleidet sich, scheut die Nacktheit ähnlich wie der bigotte Spießer, der, von heftiger Begierde erfüllt, als keuscher Biedermann erscheinen möchte.“ Jäger erteilte wie alle an dem Kolloquium beteiligten Wissenschaftler den ökonomistischen Erklärungsmustern eine deutliche Absage.

In Anlehnung an den englischen Soziologen Stuart Hall sprach er von einem „politisch-ideologischen, sozialpsychologischen und ökonomischen Ansatz“. Rassismus besitze dabei eine quasi religiöse Funktion, sei „Opium des Volkes“. Die von jedem Einzelnen erfahrenen Mängel und Entbehrungen ließen sich nicht mehr in eine „jenseitige Welt abbiegen“, sondern es müßten entsprechende „irdische Blitzableiter gefunden“ werden.

Der Politologe Volker Heins, Mitarbeiter des Frankfurter Universitätsprofessor Joachim Hirsch, erklärt sich die Zunahme rassistischer Gedanken und die erhöhten Chancen für rechtspopulistische Bewegungen aus dem Zustand des „Postfordismus“, also dem Niedergang des „Fordismus“. „Fordismus“ kennzeichnet er durch die Taylorisierung der Arbeit, die Parallelität von Produktivitäts- und Lohnsteigerungen und durch einen „staatsreformistischen Klassenkompromiß“. Dieses fordistische System befinde sich in einer Krise, es bildeten sich quer zu den Schichten beziehungsweise Klassen liegende Konflikte wie etwa in der Ökologiefrage. Der Rechts- Links-Code verliere seine Orientierungskraft, bei Parteien und Gewerkschaften zeigten sich deutliche Schwächesymptome. Die Gesellschaft zerfalle in Clans, Cliquen und Sekten. Parapolitische Phänomene entstünden, in denen genuin politische Ziele mit subjektiven Erlebnisqualitäten verknüpft würden. Genau dort siedelt Heins den Rechtsradikalismus an. Dieser stünde zwischen den neuen sozialen Bewegungen, den fundamentalistischen Vergemeinschaftungsformen und dem Hooliganismus. Aufgrund seiner Analyse prognostiziert Heins Schwierigkeiten für die Etablierung eines „parteiförmigen Rechtsradikalismus“. Einem „bewegungsnahen Rechtsradikalismus“ gibt er aber gute Chancen.

Die Hamburger Mitbegründerin des „Instituts für Migrations- und Rassismusforschung“, Nora Räthzel, geht an das Phänomen Rassismus von der Warte der „kritischen Psychologie“ heran. Rassismus ist demnach eine Form der „rebellierenden Selbstunterwerfung“ als Rechtfertigung für den Verzicht auf Lebensweisen in dieser Gesellschaft. Es gehe also darum, konkrete Handlungsfähigkeiten von Individuen zu stärken.

Als nach zwölf Referaten, den theoretischen Erläuterungen und den Bestandssaufnahmen aus der DDR, UdSSR, Österreich, Italien und Belgien diese Stärkung der Handlungsfähigkeiten konkretisiert werden sollte, entzündete sich ein stattdessen Streit um den Stellenwert von Theorie und Praxis.

Während Siegfried Jäger theoretische Erklärungen prinzipiell vor die Praxis stellte, ist für den Bonner Antifa-Aktivisten Peter Kratz, angesichts dessen, was auf der Straße ablaufe, die Zeit akademischer Diskussionen längst abgelaufen. Er plädierte beispielsweise dafür, durch Wohnungsbau Problemfelder zu entschärfen oder durch praktische Sozialarbeit Lebenshilfe für ImmigrantInnen zu geben. „Was nützen Gegenstrategien für die Köpfe, wenn andererseits die materiellen Bedingungen die Deutschen gegen die Ausländer aufbringen?“ Nora Räthzel warnte vor der Fehleinschätzung, daß „aus dem Geben guter Lebensbedingungen bereits Handlungsfähigkeit“ resultiere. Dem Oldenburger Sprachwissenschaftler Franz Januschek stellt sich dieses Problem gar nicht. Wissenschaft brauche keine Vermittlung zur Praxis. „Die Wissenschaft soll die Verhältnisse als solche zum Tanzen bringen, weil sie ihnen ihre eigene Melodie vorspielt.“