„Aljoscha, wirf den Panzer an, wir fahren ins Theater“

Die russischen Soldaten ziehen ab/ Ein sowjetischer Rechtsanwalt berichtet über unvorstellbare Brutalität in der Roten Armee  ■ Aus Thüringen Henning Pawel

Pünktlich um 10 Uhr werden die Kasernentore geöffnet. Erstmalig für Zivilisten. Ein Truppenteil der Sowjetarmee, Standort Weimar, hat zum Tag der offenen Türen eingeladen. Die Gäste kommen. Abgeordnete, Politiker, Journalisten, Offiziere des neuen, gesamtdeutschen Heeres. Eine Kapelle spielt. Nicht die in hiesigen Armeeregionen übliche preußische Tsching-Bum-Musik. Russische Militärmusik ist eigenartiger. Wehmütiger schallt es über den Exerzierplatz. Herbstnebel liegt in der Luft — Zeitenwende.

Die Russen werden abziehen. In ein paar Jahren erst. Dennoch, der Abschied ist schon programmiert.

Ehrenkompanie paradiert. Die Beine fliegen hoch. Jetzt donnert schweres Gerät los. Die Journalisten rasen hin, als sei ihnen zum ersten Mal solches Gedröhn zu Ohren gekommen. Doch nichts geschieht, nur das Gerät donnert und qualmt, und ein reich geschmückter Unteroffizier sieht stolz aus der Fahrerkabine.

Mir kommt ein Witz aus Kindertagen in den Sinn: „Aljoscha, wirf den Panzer an, wir fahren ins Theater.“

Auftritt einer Nahkampfspezialtruppe. Jeden, der das Vaterland gefährdet, wollen sie bezwingen, nur mit der Handkante. Ein alter sowjetischer Haudegen, der vor fast vierzig Jahren hier diente und nun zu Besuch weilt, äußert sich begeistert. Über den Ausbildungsstand und die hohe Disziplin der Maltschiki (Jungs) und die Ordnung der Deutschen.

Das Lachen vergeht mir beim Auftritt des sowjetischen Rechtsanwaltes Oleg Ljamin. Der mutige Mann verurteilt in scharfen Worten die ganze Show. Die Selbstdarstellung der Armee sei von den tatsächlichen Verhältnissen so weit entfernt wie die Erde vom Mond. Ljamin bringt das gesamte offizielle Programm durcheinander, attackiert fast alle Offiziere, den Wahrheitsgehalt ihrer Ausführungen, und führt die Medienvertreter zu einem Gebäude innerhalb des Geländes, dessen Tore geschlossen bleiben. Das Militärgefängnis. 23 Angehörige säßen hier, unter unsäglichen Bedingungen. Ihre Recht- und Schutzlosigkeit sei archaisch. Willkür, Korruption, Gewalt und auch Mord gehörten zum Alltag in der sowjetischen Armee. Gewalttaten würden vertuscht. Die Opfer, falls sie überlebten, seien in vielen Fällen schlimmer dran als die Täter. Von etwa 1.000 Soldaten, die jährlich umgebracht würden, spricht der Anwalt.

Opfer hauptsächlich der EK-Bewegung. EK bedeutet Entlassungskandidat. Ein EK ist Angehöriger des letzten, obersten Diensthalbjahres. Er hat es bald geschafft und nimmt sich das von den Vorgesetzten tolerierte Recht heraus, ein Regime unglaublicher Brutalität über die Genossen, die noch am Anfang ihres Dienstes stehen, zu errichten.

Entwürdigende, ausbeuterische Dienstleistungen, Bereitstellung von Geld, Zigaretten und Lebensmitteln (monatliches Sold eines Soldaten: 25DM), Sklavendienste und andere Demütigungen übelster Art seien alltäglich. Jede Verweigerung werde brutal geahndet. Soldaten, die es nicht mehr ertragen, desertieren, verbergen sich in den Wäldern und werden nach Ergreifen zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt.

In der Sowjetarmee seien Methoden an der Tagesordnung, die vom KGB und dem NKWD seit Jahrzehnten in den Straflagern praktiziert werden. Ein teuflisches System perverser Machtausübung, das auf junge Staatsbürger angewendet wird, deren einziges Vergehen darin besteht, ihrem Verfassungsauftrag zur Landesverteidigung nachzukommen. Verheerend die Folgen, sagt der Anwalt. Zahllose Soldaten kommen an Leib und Seele gebrochen nach Hause, finden nie wieder Zugang zu normalen, menschlichen Beziehungen, sinken ab in Kriminalität und Assozialität. Ljamins Ausführungen liegen mir im Magen. So schwer, daß ich die Einladung zum offiziellen Mittagessen ablehne und draußen bleibe im Gelände.

Freunde, Befreier, Sowjetmenschen — anders durften wir sie nicht nennen. Wer „Russen“ sagte, lag schon schief, wurde auch so angesehen. Nicht von den Russen. Die fanden das normal. Auch der liebedienerisch gezimmerte Titel „die Freunde“ hatte Berechtigung. Es sind freundliche, warmherzige Menschen, die gerne Geselligkeit pflegen. Allerdings mußten die spärlichen Beziehungen und Freundschaften hierzulande illegal ablaufen. Noch vor kurzem war jeder private Kontakt, trotz der gepriesenen engen und ewigen Freundschaft, strengstens untersagt. Ihre Hilfsbereitschaft war legendär. Unzählige Leute wurden aus brennenden Häusern, Kinder vorm Ertrinken gerettet oder einmal, aus dem 5.Stock stürzend, geistesgegenwärtig mit dem Uniformmantel aufgefangen. Der Fänger erlitt Frakturen an beiden Händen, hielt dennoch fest, putzte nach Augenzeugenberichten dem unversehrt gebliebenen, brüllenden Flugobjekt die Nase und ging weiter zum Bahnhof.

Kaum ein Kraftfahrer älterer Modelle, dem sie nicht schon ausgeholfen haben mit ihrer Improvisationsfähigkeit und ihrem fürchterlichen Benzin. Kaum ein Student, der nicht zusteigen durfte beim Autostopp auf klapprige Militärlaster, dort bewirtet wurde mit Sonnenblumenkernen, Trockenfisch und Machorka. Kaum ein Mann in mittleren Jahren, der nicht in den alten Tagen, lange vor der Gorbatschowschen Prohibition, mit ihnen bis zur Bewußtlosigkeit soff und dann treulich zu Hause abgeliefert wurde. Wie ein Sack Briketts allerdings. Denn sie sind zwar gastfreundlich und hilfsbereit, aber zimperlich sind sie nicht. Ihre Bildung ist oft erstaunlich. Experten in Sachen deutscher Kultur und Kunst auf Schritt und Tritt im Offizierskorps. Oft Schamröte im Gesicht der Einheimischen bei soviel Sachverstand und eigener Unbedarftheit.

Unser, der einstigen DDRler, Verhältnis zu ihnen? Eine eigenartige Synthese. Immer war da Vorsicht geboten. Sie sind schließlich nie verstummt, die Geschichten über fürchterliche Lager, in denen unzählige Menschen, am meisten Russen selbst, aber auch viele Deutsche, verschwanden.

Auch viel Verehrung und Bewunderung ist da. Über ihren Sieg und die historische Befreiungsmission. Wer in Auschwitz war und Theresienstadt, der wurde wirklich befreit. Wohl jeder ostdeutsche Antifaschist sah das so. Kaum einer aus den DDR- Nachkriegsgenerationen stellte diese Leistungen der Roten Armee, ihre ungeheuren Opfer je in Abrede.

Auch sehr viel Abneigung ist zu finden. Bei denen, die so gerne in der Ukraine oder in Belorußland gesiedelt hätten, in Wehrburgen. Bei den Flüchtlingen aus dem Osten. Bei den Frauen, die einst den Kampftruppen in die Hände fielen. Bei Kriegsgefangenen, die jenseits des Polarkreises zu schuften hatten. Kaum aber richtet sich Abneigung gegen den einzelnen Soldaten oder den sowjetischen Offizier. Sie besitzen immer Sympathie und Mitgefühl.

Nie habe ich gehört, daß jemand von den „Besatzern“ spricht. Was wären es auch für welche, die soviel schlechter leben, als jene, über die sie siegten. Immer ist da bei uns ein Bewußtsein, daß sie viel ärger als wir besetzt sind. Von inhumanen Bürokraten, erbarmungslosen Dogmatikern und Strukturen, die so überflüssig wie schrecklich sind.

Und nun ziehen sie ab, die Russen. Doch wie so vieles im Schicksal dieses Volkes und seiner Armee gerät auch dieser Abzug zur Katastrophe. Ich fahre nach Hause. Ein sowjetischer Major steht winkend am Straßenrand. Er muß nach Erfurt zum Bahnhof. Noch mehr Offenheit in meinem Wagen beim „Tag der offenen Türen“. Und wie gut, daß mein Russisch noch funktioniert.

Ihm graut vor der Heimat, bekennt er bitter. Keine Wohnung. In Zelten hausen sie schon jetzt, die Heimkehrer mit ihren Familien. Kaum Lebensmittel, häufig keine Milch für die Säuglinge. Er flucht, was für eine Sauerei in einem solch reichen Land. Er würde gerne hierbleiben, hätte seinen Kindern noch ein paar Jahre das Obst gegönnt und die Südfrüchte... Aber leider, bald geht es nach Hause.