Unverständnis im puritanischen Osten

■ Ostberliner Besetzerbewegung hat mit West-Unterstützung neue Qualität erreicht

Gab es bis Ende April in Ost-Berlin nur Besetzungen von einzelnen Häusern, so hatte die „Besetzerbewegung“ mit der Inbesitznahme eines ganzen Straßenzuges in der Mainzer Straße eine neue Qualität erreicht. Weitere Besonderheiten waren die Tatsachen, daß die Besetzer vorwiegend aus dem Westteil der Stadt kamen und ihre Häuser unmittelbar nach ihrer Inbesitznahme befestigten — „zur Absicherung gegen Fascho-Überfälle“, wie die Besetzer erklärten.

Dies schien auch dringend geboten zu sein. Da sich seinerzeit die Beschwerden über sogenannte „linke“ Häuser ohnehin schon in einem Maße mehrten, daß die völlig überforderte Volkspolizei die meisten Anzeigen darüber kaum noch zur Kenntnis nahm, waren die BewohnerInnen noch aus einem anderen Grund ganz besonders der Gefahr marodierender Rechtsradikaler ausgesetzt: Ein Großteil der neuen Bewohner waren Homosexuelle beiderlei Geschlechts, die dort ein Wohn- und Lebensprojekt nach eigenen Vorstellungen realisieren wollten. „Wir haben uns“, so damals ein Angehöriger der Besetzergruppe zur taz, „Wohnraum genommen, um offen schwul und nach unseren eigenen Vorstellungen leben zu können.“ So wurde das Haus Nummer fünf zum „Tuntenhaus Forellenhof“ erklärt, Nummer sechs zum „Lesbenmütterhaus“. In dem bis dahin sehr puritanischen Osten mußten solche Versuche der Selbstverwirklichung zwangsläufig zumindest auf Unverständnis stoßen. So bildete sich eine ziemlich rechtslastige, DSU-nahe Bürgerinitiative gegen die Besetzer der Mainzer Straße. Auf einem von ihr einberufenen „Bürgerforum“ regte man sich zum Beispiel darüber auf, daß Anwohner beobachtet hätten, „wie sich zwei Männer vor offenem Fenster geküßt“ hätten. Selbst Bezirksbürgermeister Helios Mendiburu (SPD) — sonst der Szene der Mainzer Straße eher ablehnend gegenüberstehend — sah sich auf dieser Veranstaltung genötigt, die Besetzer zu verteidigen.

Waren unter den ersten Besetzern noch relativ wenig Verfechter einer militanten Linie des „politischen Häuserkampfes“, so kristallisierte sich dort schon bald — wohl auch auf Grund einer Konzentration von besetzten Häusern in dieser Gegend — das politische Zentrum der Besetzerbewegung heraus. Der Besetzerrat, aus dem sich zu Zeiten der Scheinverhandlungen des Magistrats mit den Besetzern auch das „Vertragsgremium Besetzte Häuser“ rekrutierte, wurde in hohem Maße von Besetzern aus der Mainzer Straße dominiert. Olaf Kampmann