Das abgerissene Berlin

■ Der Fotograf Georg Bartels im Ostberliner Handwerksmuseum

Schöne Fotografien über das Berlin der Jahrhundertwende sind Georg Bartels Stadtansichten wahrlich nicht: Die Stadt erscheint darin weder im Glanz sentimentaler Biedermeierlichkeit wie etwa in den Alt-Berlin-Fotos von Albert Schwartz. Noch sind sie realistische Anklagen wie die Milieustudien seiner Zeitgenossen Heinrich Zille und Waldemar Titzenthaler. Bartels Fotos sind beinahe belanglos unspektakulär. Zu sehen sind beliebig alltägliche Architekturen. Die Häuser und Plätze bleiben anonym. Das heutige Berlin sucht man vergeblich. Ein anderes erscheint.

Der Fotograf Georg Bartels, von dessen Oeuvre rund 100 Stadtansichten im Berliner Handwerksmuseum ausgestellt sind, knipste für den Abriß vorgesehene Bauten. Im Auftrag des Berliner Magistrats dokumentierte er zwischen 1886 und 1907 Häuser und Straßenzüge, Freiflächen und ländliche Vororte, an deren statt sich die wachsende Großstadt und aufblühende Industriemetropole bald präsentieren würde: Bäuerliche Fachwerkschuppen hatten im Zentrum keinen Platz. Halb eingerissene, aufgeschnittene Gebäude stehen bereits in Ruinenlandschaften. Gassen, Hinterhöfe, triviale Ecken und Kanten werden eingezingelt von Gerüsten für kommende Architektur. Die Müllerstraße ist noch ein Acker, auf dem ein einziges Haus steht. Ein Schild über dem Schaufenster kommentiert die Zukunft: »Anfang Juli des Jahres verlege ich mein Geschäft nach Nr. 104.« Vor den Gebäuden posieren für den Fotografen Anwohner, Passanten und Arbeiter, die, bewegen sie sich, durch die lange Belichtungszeit transparent erscheinen. Fahrende Verkehrsmittel sind Schatten. Auf den Bildern ist die Welt geisterhaft und in der Schwebe. Hin und wieder zeigt sich über den Dächern ein bekannter Kirchturm, zwischen den Straßen ein Fassadenausschnitt, ein Platzrest oder die Spree. Das war Berlin? Die Szenen könnten in jeder Großstadt spielen, so untypisch sind die Aufnahmen.

Die Originalität von Bartels Stil liegt in seiner teilnahmslosen Distanz zu den Objekten. Die Bildinformation gleicht einer sachlichen Bestandsaufnahme. Im Mittelpunkt des Interesses steht für Bartels keine Deutung ruinöser Idyllen und abgeräumter Halden, sondern eine »So-ist-es- Feststellung«. Mit seiner ausschließlich registrierenden Sicht vermeidet er jede Umschichtung in optische Eindrücke, die eine subjektive Interpretation der Dokumentation zuließen. Kontraste von Licht und Schatten fehlen. Die Perspektiven sind fast immer gleich. Die Aufnahmen erscheinen wie für ein baupolizeiliches Melderegister, in dem die baulichen Physiognomien als starre Totenmasken abgeheftet werden.

Trotzdem. Bartels Berlin-Fotografien waren für jene Zeit mehr als modern und sind es heute in einem anderen Sinn wieder. 1871 war Berlin Reichshauptstadt und zum politischen und wirtschaftlichen Zentrum geworden. Doch im Unterschied zur technischen und industriellen Entwicklung förderte die nationale Rückbesinnung eine Kunstproduktion, auch in der jungen Fotografie, in der malerische Eckchen und romantische Winkel als Zeichen einer geschichtsträchtigen Vergangenheit galten. Noch 1886 fand im Roten Rathaus eine Ausstellung statt, mit Hilfe derer sich Berlin seiner jüngsten Geschichte aus Abriß und Neubau zu entledigen suchte. Die rund 1.000 Alt- Berlin-Ansichten stellten eine Präsentation nostalgischer Stadtidyllen und ästhetisch-schmalzigen Historismus dar. Im gleichen Jahr begann Georg Bartels seine Gebäudedokumentation, in jenem trivialen Stil, mit dem er die Dinge zeitgemäß und objektiv, fast kalt betrachtete.

Die ausgestellten Stadtansichten erzählen über Georg Bartels mehr, als die Daten hergeben, die über ihn bekannt sind: Geburts- und Todesjahr Bartels fehlen. 1886 wurde er erstmals im Berliner Adressbuch registriert. Er wohnte in der Frankfurter Allee. Sein Atelier lag in der Oranienstraße. 1904 zog er in die Stendaler Straße um. 1912 reißen die Eintragungen ab. Aus den Gehaltslisten des Märkischen Provinzialmuseums — jetzt Märkisches Museum, das die Sammlung der 1360 Bartels-Fotos besitzt — ist ersichtlich, daß Bartels Fotoaufträge übernahm. Er arbeitete »mit Umsichtigkeit und Geschick«, wie das Monatsblatt des Museums einmal berichtete. Er fotografierte mit technischer Solidität und verkaufte die Bilder — zum Dumpingpreis. Sie waren wohl noch nicht Kunst genug. Ein Porträt des Verwaltungsfotografen ist nicht bekannt. Sonst taucht sein Name nicht mehr auf. rola

Die Ausstellung ist bis Ende des Jahres im Berliner Handwerksmuseum, Am Mühlendamm 5, in Berlin-Mitte zu sehen. Di. bis Fr. 9-17, Sa. 9-18 und So. 10-18 Uhr. Eintritt ist frei. Der Katalog kostet 39,80 Gesamtmark.