Zivilisation der Vergeltung

■ Paul Parin als Schriftsteller und Essayist

Italien 1944, Untergrundkampf der Mailänder Resistenza gegen das angeschlagene und deshalb umso bösartiger zugreifende faschistische Regime: Historischer Hintergrund von Paul Parins neuer, zehn Jahre nach dem unvergeßlichen Prosazyklus Untrügliche Zeichen von Veränderung veröffentlichter Erzählung Noch ein Leben. Es ist kein literaturkritisches Kunststück, sich bei der Lektüre in die Welt forttragen zu sehen, die der italienische Romancier Elio Vittorini in seinem 1945 erschienen Wiederstandsroman Uomini e no festgehalten hat, denn der Autor selbst stellt den Bezug zu Bittorini her. Was hat Parin veranlaßt, nicht als deutender Psychoanalytiker (wie er es in seinem Aufsatz „Freiheit und Unabhängigkeit: Zur Psychoanlyse des politischen Engagements“ von 1969 getan hat), sondern als Erzähler auf das von Vittorini behandelte Widerstandsthema zurückzukommen?

Nicht die Atmospäre von Widerstand und Gewalt ist es, was den in der Beschreibung äußerst zurückhaltenden Erzähler an der Geschichte fesselt, sondern der Konflikt zwischen revolutionären Aktivismus und individueller Lebenslage, die Vittorini in seine Hauptfigur hineinpflanzte. Der mit dem konspirativen Namen „N2“ versehene Aktivist will kämpfen, will aber auch sterben, weil er sich als Liebender zurückgestoßen sieht, und begibt sich schlißlich in eine Situation, in der er kämpfend sterben kann: Bevor der Kugelhagel der faschistischen Schergen seinen Sterbewunsch erfüllt, wird er ihren blutrünstigen Anführer getötet haben, und die Nachwelt wird ihn als Helden verehren. Die Lösung Tod stellt den Konflikt still, bevor er im Bewußtsein des Helden ausbrechen kann.

Parins Erzählung setzt dort ein, wo Vittorinis Geschichte endet. Sie läßt ihre Figur nicht in den Himmel der Helden entwischen, sondern stellt sie zur Rede, fragt sie nach dem Überleben aus. Ganz ohne seinen Willen ist Parins junger Aktivist zum Helden des Mailänder Widerstands geworden: Im Glauben, einen unpolitischen, mit der Inhaberin seines Zimmers in zweifelhafter Verbindung stehenden Eindringling vor sich zu haben, greift er zur Waffe und trifft in Wahrheit, wie er danach erfährt, eine Schlüsselfigur der Geheimpolizei. Seiner Tat wegen gerühmt, aber ins Visier der faschistischen Polizei geraten, wird der Widerstandskämpfer über die Schweizer Grenze geschafft und bei Vertrauten der Züricher Arbeiterbewegung in Sicherheit gebracht.

Nach außen hin die Rolle des verfolgten Widerstandshelden durchhalten müssen, die das Leben im Exil legitimiert, und allein das Wissen mit sich herumtragen, daß diese Existenz auf einem Mißverständnis beruht: Paul Parin ist es geglückt, diesen Bewußtseinskonflikt als eine Geschichte zu erzählen, die voll untergründiger Spannung steckt, und zugleich unauffällig Einblicke in die Nachkriegsgeschichte der Arbeiterbewegung in Zürich zu vermitteln. Wie es schließlich kommt, daß der Veteran des italienischen Widerstands aus der Einsamkeit seiner quälenden Wahrheit erlöst wird, soll hier nicht verraten werden; als Fingerzeig mag genügen, daß Vittorinis Roman daran seinen Anteil hat.

(In Zürich übrigens, und zwar bereits 1946, ist die erste deutsche Übersetzung von Uomini e no erschienen, verlegt von der Büchergilde Gutenberg, versehen mit dem allerdings wenig ansprechenden Titel Der Mensch N2; die spätere bundesdeutsche Version erhielt den Titel Dennoch Mensch, der einen Verrat an Vittorinis Absicht bedeutet, weil er die Unterscheidung zwischen Menschen und Unmenschen auslöscht, auf der die Geschichte besteht.)

Auf Vittorini und andere italienische Schriftsteller kommt Paul Parin in einem der beiden Essays zurück, die der Erzählung beigefügt sind, und zwar aus einem spezifischen Erkenntnisinteresse heraus: Der Vergleich mit der deutschen Literatur der Nachkriegszeit soll erhellen, wie zwei Kulturen eine nicht identische, aber vergleichbare Erfahrung von Terror und ideologischer Tyrannei verarbeiten. Der ethno-psychoanalytisch geschulte Leser Parin erkennt in der deutschen Literatur nach 1945 nicht den reinigenden Bruch, den das Schlagwort vom „Kahlschlag“ verheißt, sondern das versteckte Überleben der von Hitler verkörperten tyrannischen Instanz, die nach dem Ende des Diktators den Namen „Schicksal“ erhielt. Auf diese Weise blieb den äußerlich von der Naziherrschaft befreiten Deutschen erspart, nach ihrem eigenen Anteil an der Geschichte zu fragen. Dazu aber sahen sich die Leser der italienischen Literatur jener Zeit nachdrücklich aufgefordert. Ihre Autoren und Autorinnen brauchten nicht an ein sie selbst und ihre Leser entlastendes Schicksal zu appellieren, weil es ihnen gelungen war, vor dem politischen Ende des Faschismus aus dem ideologischen Gefängnis auszubrechen, in das die Kultur gesperrt worden war. „Äußerer Druck, Zensur und Terror haben sich für viele Schriftsteller und Intellektuelle nie mit einer tyrannischen Instanz verknüpft, sind äußerlich geblieben, haben weder zu Übereinstimmungssucht noch zu Autoritätsglauben geführt.“ In Deutschland dagegen, schreibt Parin, auf ein Wort von Christa Wolf zurückgreifend, hat beides im Hang zu „geschlossenen Gedankengebäuden“ überlebt.

Der Essay kommt zur rechten Zeit, um gegen die Legende Einspruch zu erheben, die im Westen des sich vereinigenden Deutschland neu entsteht und die das unter dem Namen „Vergangenheitsbewältigung“ zusammengefaßte Konglomerat aus Verleugnen und selektivem Gedenken, aus Vergessen und falschem Versöhnungspathos als gelungenen Verarbeitungsprozeß herzeigen will, zum Zweck der weiteren Einschüchterung der mit ihrer eigenen Vergangenheit hadernden DDR-Gesellschaft.

Von höchster Aktualität sind die Überlegungen, die Parin im zweiten Essay zum Thema Vergeltung anstellt. Sie warnen vor der jetzt verbreiteten Illusion, mit dem Abklingen der militärischen Konfrontation zwischen Ost und West sei auch die Logik der Vergeltung am Verschwinden, die hinter der Strategie der Supermächte steckt. Parin zeigt vielmehr am Kontrast zur traditionellen Rechtspraxis der westafrikanischen Dogon, daß die europäische Kultur sich durch die eigenartige Fähigkeit auszeichnet, Vergeltungswünsche weit über den kränkenden Anlaß hinaus, der sie wachrief, lebendig zu halten. Es ändert sogar nichts an ihrer Virulenz, wenn die Quelle der Bedrohung völlig gewechselt wird. Nichts könnte den Wahrheitsgehalt von Parins Analyse besser illustrieren als die Schnelligkeit, mit der die westliche Öffentlichkeit, kaum hatte sie das Ende des kalten Krieges gefeiert, in der arabischen Welt den neuen bedrohlichen Feind identifizierte. Der eben noch umschmeichelte Waffenkunde Saddam Hussein verwandelte sich, fast wie bei Orwell, über Nacht in den orientalischen Hitler, gegen den die zivilisierte, das heißt latent ständig zur Vergeltung bereite Welt zusammenstehen muß.

Ein unaufdringlich aufklärendes, die Phantasie anregendes, zum Weiterdenken anhaltendes Buch. Und die beglückende Wiederbegegnung mit dem Schriftsteller Paul Parin, der zu streiten vermag, ohne auf das Instrument der Polemik zurückzugreifen, der überzeugt, ohne zur Rhetorik Zuflucht zu nehmen, der schreibend unverstellt gegenwärtig bleibt. Lothar Baier

Paul Parin: Noch ein Leben. Eine Erzählung. Zwei Versuche. Kore Verlag