„Kann man denn Krankheiten wegreden?“

Das UN-Embargo gegen den Irak führt zu ernsten Engpässen in der medizinischen Versorgung/ Vor allem Kinder sind die Leidtragenden/ In den medizinisch unterversorgten ländlichen Regionen droht das Gesundheitswesen zu kollabieren  ■ Aus Bagdad Khalil Abed Rabu

„Wenn mein Kind stirbt, trägt er die Schuld!“ Samira weint, das Kleinkind in ihren Armen schreit. Samira ist eine junge irakische Mutter. Sie ist in die Praxis eines Bagdader Kinderarztes gekommen, um ihren Sohn impfen zu lassen. Doch der „Tabib“, der Doktor, kann ihr nicht helfen: Es gibt keine Impfseren mehr. Durch das internationale Embargo gegen den Irak sind viele Medikamente zur Mangelware geworden. Schuld an Blockade und Mangel aber ist nach Samiras Meinung er: US-Präsident George Bush.

Die ersten Opfer des UN-Embargos gegen das Zweistromland sind zweifellos die Kleinkinder. Denn gegenwärtig sind vor allem Kindermilch, Vitamintabletten, Medikamente und Impfstoffe rare Güter. Die Bagdader Regierung versucht, den Mangel durch die Ausgabe von Lebensmittelkarten wenigstens gerecht zu verteilen. Jedes Kind, das nicht älter als ein Jahr ist, erhält pro Monat drei Dosen Milch. Viel zu wenig, wie die Mütter in der Praxis des Kinderarztes meinen.

„Unverdünnt reichen die drei Dosen gerade zehn Tage, ich muß die Milch also mit Wasser strecken“, sagt Samira resigniert. „Du hast es gut“, wirft ihre Nachbarin ein. „Ich bekomme überhaupt keine Milch, weil meine Tochter schon beinahe zwei Jahre alt ist.“ Wie aber ernährt sie ihr Kind? „Was soll ich schon machen? Ich versuche meiner Tochter Yoghurt zu geben, dünne Suppe. Aber sie will nicht esssen. Jetzt muß ich warten bis sie so hungrig ist, daß sie ißt, was ich ihr geben kann.“ Etliche Frauen nicken zur Bestätigung.

Sami al-Buni, der Kinderarzt, bittet mich ins Sprechzimmer. Er habe nur wenig Zeit, meint er bedauernd und weist mit einer ausladenden Handbewegung auf das übervolle Wartezimmer. „In den letzten Wochen“, greift er das Thema Milchmangel auf, „kommen mehr und mehr Mütter mit Kleinkinder, die untergewichtig sind. Eine eindeutige Folge des Mangels an Milchprodukten. Viele Mütter versuchen nun zwar, ihre Kinder wieder zu stillen, aber die Kinder lehnen die Mutterbrust oft ab. Sie sind bereits an die Milchflasche gewöhnt.“ Doch nicht nur die fehlende Milch sei ein Problem, fügt al-Buni hinzu. Vor allem das Fehlen wichtiger Arzneimittel macht es ihm schwer, einen vernünftigen Praxisbetrieb zu gewährleisten. „Sagen Sie mir doch, wie soll ich ohne Medikamente helfen? Kann man denn Infektionskrankheiten wegreden?“

Vom Mangel an Medikamenten weiß auch Nahla Kabban, Ärztin am Bagdader „Kinderkrankenhaus Saddam“ ein Lied zu singen. Hauptsächlich fehle es an pharmazeutischen Produkten für „schwierige Krankheiten“: Digitalis für Herzleiden, Insulin für Blutzucker, Cortison für Asthma und diverse Therapeutika zur Behandlung von Epilepsie. Auch auf den gravierenden Mangel an Impfstoffen gegen Typhus, Masern, Tuberkulose, Tetanus, Diphtherie und Kinderlähmung weist sie hin. „Im Irak wurden diese Medikamente und Seren nie produziert. Und die Bemühungen, eine eigene pharmazeutische Industrie aufzubauen, stecken noch in den Kinderschuhen. Stets waren wir daher auf den vollständigen Import dieser Mittel angewiesen. Seit dem Embargo bekommen wir aber keinen Nachschub mehr. Künftig werden wir folglich gerade bei Kindern mit einer Zunahme der klassischen Infektionskrankheiten zu rechen haben.“

Hamid Saleh betreibt eine Apotheke mitten im Zentrum der Tigrismetropole. Er ist wütend über das Medikamentenembargo. „Das ist ein Angriff auf die Menschenwürde! Sogar die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sehen einen Lieferstopp von Medikamenten nicht vor. Viele Zuckerkranke sind zu mir gekommen. Doch ich konnte ihnen kein Insulin geben. Wenn jemand aber Zucker hat und man ihm das Insulin verweigert, dann heißt das, ihn zum Tode zu verurteilen.“ Prekär ist auch die Lage im „Ibn-Naffis-Krankenhaus“. Auf Befehl von „oben“ mußte das Hospital für Koronarerkrankungen seinen Verbrauch an Medikamenten um fünfzig Prozent senken. Das bedeutet, wie Dr. Mohammed Dabban meint, „daß wir nur noch Kranke aufnehmen können, die unmittelbar in Lebensgefahr schweben. Neue Patienten, bei denen Eingriffe am Herzen erfolgen müssen, erhalten einen Termin ab Ende 1991.“ Nach Angaben des Krankenhausdirektors Dr. Feisal Gana muß das Krankenhaus zudem fünfzig Betten für die Opfer eines möglichen Krieges bereithalten. Und eine Schwester fügt hinzu: „Wir gehen vor allem mit den Schmerzmitteln sehr sparsam um. Frisch Operierte erhalten weniger schmerzstillende Präparate als üblich. Denn im Falle eines Krieges werden wir jeden Kubikzentimeter Morphium dringend zur Versorgung der Verletzten brauchen.“

In den großen Städten des Irak wie Bagdad und Basra gab es vor der Blockade eine ausreichende medizinische Versorgung. Der staatliche Gesundheitsdienst ist, mit Ausnahme stationärer Behandlungen, landesweit kostenlos. In den ländlichen Regionen jedoch ist es — trotz der verstärkten Bemühungen in den letzten Jahren — schlecht um das Gesundheitswesen bestellt. Es gibt zu wenig Ärzte, und es fehlt an Einrichtungen, die für eine stationäre Behandlung von Patienten geeignet sind. Bereits vor Beginn des Embargos lag die Säuglingssterblichkeit mit 7,7 Prozent (Bundesrepublik Deutschland 1988: 0,8 Prozent) relativ hoch, was vor allem auf die schlechte medizinische Versorgung im ländlichen Mesopotamien zurückzuführen sein dürfte. In den Städten des Iraks hat sich die medizinische Versorgung als Folge des Embargos drastisch verschlechtert. Auf dem ohnehin unterversorgten Land aber könnte sie gänzlich kollabieren.